©MatthiasZölle

orchestra

„Neun Tänzer bewegen sich auf einen Punkt der Bühne zu, recken die Arme in die Höhe. Sie werfen immer größer werdende Schatten an die Wand. „Orchestra“ (griechisch: „Tanzplatz“) hat Daniel Goldin seine neue Tanzchoreographie für die Städtischen Bühnen Münster genannt und damit eine Ode ans Theater und die Formen seiner Inszenierung geschrieben. Türen öffnen sich, Licht fällt auf die Bühne. Es gibt ihr in Sekundenschnelle ein anderes Aussehen, taucht das geräuschlos tanzende Ensemble in immer wieder wechselnde Stimmungen. Bis die Aufmerksamkeit auf einen Reifen fällt, der unterhalb der Bühnendecke hängt und plötzlich zu brennen beginnt. Die Überlegungen des Theatertheoretikers Adolphe Appia hat Goldin seiner 25. Uraufführung in Münster zu Grunde gelegt. Der Schweizer hatte ein konzentriertes Zusammenspiel von Musik, Bewegung, Raum und vor allem Licht auf der Bühne gefordert – und Goldin hält sich daran.

(...)Irgendwann erstarren ihre Bewegungen. Ihre eigene Verwandlung in einen Stein auf der Bühne ist ergreifend. Wie integriert ins Geschehen, sitzen entweder das Turina- oder das Mendelssohn-Quartett beziehungsweise Streicher des Sinfonieorchesters Münster am Rande einer überdimensionalen Sitzreihe auf der Bühne und begleiten die mystischen Szenen mit Kammermusik aus dem 20. Jahrhundert. Wie Sirenen heulen die Geigen, wie Wehklagen klingen sie, wenn Odysseus’ Geschichte erzählt wird. Sämtliche Gefährten verlor er auf seiner langen Irrfahrt. Auf den Städtischen Bühnen tanzt er mit ihnen, ganz in Weiß gehüllt, wie nicht mehr von dieser Welt.”

Andrea Kutzendörfer, Die Glocke, 08. Juni 2009


„Drei Sagen sind bei der Uraufführung von Daniel Goldins „Orchestra“ verarbeitet. Doch wer die Geschichten von Sisyphos, Niobe und Odysseus erkennen will, findet nur noch Fetzen vor. Als seien Worte und Handlungen zusammengepresst worden. Was übrig bleibt: eine Essenz getanzter Gefühle. „Wir wollen auf der Bühne die Dinge nicht mehr so sehen, wie wir wissen, dass sie sind, sondern so, wie wir sie empfinden.“ Das schrieb Adolphe Appia, so ist es im Programmheft nachzulesen. Angelehnt an die Lehren des Theoretikers der Inszenierungskunst hat Choreograf Daniel Goldin am Samstagabend im Großen Haus der Städtischen Bühnen Münster ein emotionales Gesamtkunstwerk aus Licht, (Live-)Musik, Tanz und Farbe arrangiert. Die Bühne wird zur „Orchestra“ (das griechische Wort für Tanzplatz): Im klassischen antiken Theater war sie eine der eigentlichen Bühne vorgelagerte Spielfläche für den Chor. Was hier passiert, ist also nicht das Hauptgeschehen, nicht die Geschichte selbst, hier wird die Handlung begleitet, hier wird kommentiert. Manch Unsagbares bekommt eine Stimme ­- oder zumindest einen Ausdruck.

Sisyphos Goldins Tanzplatz ist von hohen grauen Granitblöcken umgeben (Bühne: Matthias Dietrich). Scheinbar unüberwindbare Wände, die sich im Verlauf des Abends aber immer weiter öffnen. Das Turina-Quartett sitzt auf der rechten Seite und spielt. Von der Decke hängt ein Reif, der sich nach einer Weile entzündet und die Musik von Dimitri Schostakowitsch, dieses seelenvolle Streichquartett Nr. 8 aus dem Jahr 1960, in sanften Feuerschein taucht. Die Tänzer tragen Anzüge, die Tänzerinnen Kleider in satten, teils leuchtenden Farben (Kostüme: Gaby Sogl). Ihre Bewegungen sind - ganz typisch Goldin - von Wiederholungen gekennzeichnet, von kleine Gesten und rituell anmutenden Abläufen. Fließende, poetische Bilder mit symmetrischen Gruppen-Formationen. Dieser erste Teil, inspiriert von der Sagengestalt Sisyphos, die dazu verurteilt war, einen Felsbrocken immer wieder einen Berg hinaufzurollen, ist paradoxerweise der harmonischste, der wärmste, ja, der glücklichste Moment des Abends.

Im zweiten Teil ist die Schablone für das Bild aus Farbe, Licht, Tanz und Musik die Geschichte von Niobe, deren zwölf Kinder von den Göttern getötet werden. Niobe war zu hochmütig. Das Mendelssohn-Quartett sitzt auf der linken Seite der Bühne, während des Tanzes werden Seile mit Felsbrocken herabgelassen und man weiß nicht mehr, was schwerer auf der Seele lastet, die Steine oder Tigran Mansurians klagendes Streichquartett Nr. 1 (1983/84). Die Farben der Kleider sind jetzt verwaschen, schmutzig-grau, das Licht kälter (Lichtgestaltung: Reinhard Hubert). Ganze Bewegungsabläufe wiederholen sich jetzt, einmal scheint die Choreografie sogar von vorne zu beginnen.

Im dritten Teil sitzen 13 Solostreicher auf den Granitbänken, nehmen die hintere Bühnenmitte ein und spielen Witold Lutoslawskis sieben Präludien und Fuge (1972, Dirigat: Thorsten Schmid-Kapfenburg). Ein Meer aus Tönen. Ton-Serien. Nervöse Klänge, die auch die Tänzer nervös zu machen scheinen. Sie hetzen, wissen nicht wohin, treiben über die Bühne, hinter die Musiker, rennen von der Bühne, ein Tänzer wird aus- und wieder angezogen. Die Farbe ist gewichen, alles ist weiß: Haare, Gesichter, Körper, Kleider. Das Licht ist zu Eis erstarrt. Auch die Irrfahrt des Odysseus endet erstarrt. Steinchen rieseln auf den Boden: Ein Meer aus Tränen? Man hat das Gefühl, als könne der Abend von vorne beginnen.

Eine furiose Leistung der Tänzer. Doch wahrlich kein einfacher Abend. Mehr denn je entfernt sich Goldin von dem Sagbaren, lotet den Bereich der Empfindungen aus. Der Tanz ist mehr denn je von Ritualen und rätselhaften, symbolischen Gesten geprägt, die im Zusammenklang der Sinne ihre ganz eigene Poesie erfinden. Dafür gibt es Bravo-Rufe und langen Applaus.”

Sabine Müller, Münstersche Zeitung, 7. Juni 2009

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