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Winterreise

Eine Choreographie zum gleichnamigen Liederzyklus von Franz Schubert

„Die Choreographie „Winterreise”, mit der Daniel Goldin vor zwei Jahren bundesweit auf das Tanztheater der Städtischen Bühnen Münster aufmerksam machte, setzt im Betrachter langsam, aber beharrlich einen Denkmechanismus in Gang. Diese Interpretation des Schubertschen Liederzyklus lehnt sich zwar hin und wieder an den Wanderrhythmus der Musik oder an den Klageton des Textes an, doch viel öfter driftet sie von dem Thema des verschmähten Liebhabers ab, um dessen Selbstschmerz und Todessuche in Frage zu stellen. (...) Goldin hat sich eine sanftmütige Version des Ausdruckstanzes geschaffen. Aggression ist ihr fremd. Es liegt immer Versöhnung in der Hinterhof-Luft, und oft scheint die Befreiung aus dem Einsamkeits-Dilemma zum Greifen nah. Aber keiner dieser acht Menschen unternimmt etwas, um die Isolation zu beenden. Wie biegsame Halme im Wind schaukeln, so wehen die Ensemble-Mitglieder aneinander vorüber. Sobald sich eine weibliche Hand auf eine männliche Schulter legt, erstarren die Körper zu Eisblöcken. (...).“

ML, Mannheimer Morgen, 19. Januar 2006


„(...)Vielleicht macht es die Mischung aus jüdischer Melancholie, lateinamerikanischer Leidenschaft und deutschem Ausdruckswillen, dass es ihm (Goldin) gelungen ist, ein Stück schwärzester deutscher Romantik so aufrührend zeitgenössisch umzusetzen. Dessen Überschwang des Leidens und verzehrende Ruhelosigkeit hat er verstanden, in klar und hart gezeichnete Bewegungsabläufe von verführerischer Schönheit zu gießen. Sie sind nicht blendender Artistik, sondern innerem Empfinden verpflichtet – das verbindet sie mit dem deutschen Ausdruckstanz  - aber sie sind viel tänzerischer und lose nach klassischen Figurationen strukturiert. Wir sehen und fühlen Kälte, Einsamkeit, Verlorenheit in bildstarken, wenn auch ganz unspektakulären Auf- und Abgängen, in Bewegungsbögen, die einer an den anderen weitergibt, so dass sie wie Wellen durch die Tanzenden laufen, im Block der Gruppe, der sich marionettenhaft verschiebt. Von tränenreichen Liebesromanzen hat sich der Choreograph nicht zu schmiegsamen Pas de Deux verleiten lassen. Die wenigen Paarbeziehungen sind parallel, symmetrisch oder auseinander driftend geführte Duos. Im Vordergrund steht der Einzelne, der leidet: Starr in sich versunken, sich aufbäumend wie die Frau mit schwarzen Schuhen, oder verstört und ekstatisch als das von Tsutomu Ozeki getanzte irrlichternde Double des Komponisten.“

Heike Marx, Die Rheinpfalz, 19. Januar 2006


„(...) Die Tänzer aus Münster, allesamt mit sehr eigenen solistischen Qualitäten, stellten mühelos unter Beweis, warum das kleine Tanztheater zu den „großen“, den wichtigen Compagnien im Lande zählt.“

Isabelle v. Neumann-Cosel, Rhein-Neckar-Zeitung, 20. Januar 2006


„(...) Was bleibt, sind schöpfende, flehende, pendelnde Minimalbewegungen zu Minimalmusik, überhöht durch himmelwärts gerichtete Hände, begleitet vom Staccato einer Tänzerin auf High Heels, vervielfachte, beschleunigte Bewegung eines langen Lebenslaufes. Selten war so viel Sanftheit, Zärtlichkeit und Konsequenz in einer Choreographie wie in der Übersetzung von Franz Schuberts „Winterreise“ durch Daniel Goldin. Bühnenbild, Lichtkonzeption und Musikcollage (...) erzeugen in seinem Episodenballett einen ebenso romantisierend-melancholischen wie politisch-aktuellen Rahmen. In ihm bewegt sich die großartige Kompanie des Tanztheaters Münster mit Eleganz und Bodenhaftung und doch wie träumend. Des Dichters Klage, zugleich ein Psychogramm des Komponisten, wird mehr als nur die Klage der Unbehaustheit des Menschen in dieser Welt. (...)“

Brigitte Jähnigen, Stuttgarter Nachrichten, 20. Dezember 2005


„(...) Mit ganz subtilen Elementen hat Daniel Goldin dem Stück aktuelle Gesellschaftskritik eingehaucht. Einzeln sind die Tänzerinnen und Tänzer vollkommen orientierungslos. Es gibt nichts, wo sie sich einmal festhalten können. Keine Beständigkeit, sondern ein Suchen nach Glück, Liebe und dem richtigen Weg. Ein choreographisches Feierwerk, bei dem die Tänzer ständig in Bewegung sind, ihren Platz suchen und wenn sie ihn oder gar eine Person gefunden haben gleich wieder verlassen.

Das Nebeneinander von Glück und Unglück, von Wehmut und Leid, von Loslassen und Nicht-Loslassen wollen, wurde von den Tänzern in einer zutiefst menschlichen Körpersprache dargeboten. Durch die Eleganz der Bewegungen und das intuitive Gefühl für Emotionen entstand auf der Bühne ein facettenreiches Psychogramm der menschlichen Gefühlswelt. Die stellenweise langen Textpassagen wurden von den darbietenden Künstlern auf der Bühne in wunderbare Körpersprache umgesetzt. Der melancholische Charakter des Liedzyklus bekam so etwas Leichtes, etwas Beseeltes, das die Emotionen der Zuschauer direkt ansprach. Dafür gab es lang anhaltenden Beifall.“

Dieter Gebhardt, Bietigheimer Zeitung, 20. Dezember 2005


„(...) Schuberts düsterer Liederzyklus, ein Weltabschiedswerk und die Essenz der romantischen Verzweiflung und Einsamkeit, ist eigentlich Musik von so großer Intensität, dass sie keine Bebilderung mehr braucht. Dennoch versuchen sich immer wider Choreographen am ganzen Zyklus oder ausgewählten Liedern – in den vergangenen Jahren John Neumeier, Daniela Kurz, Uwe Scholz, Trisha Brown oder Jörg Mannes. Und allzu schnell passiert es, dass die einfachen Klavierlieder unter der Last zu großer Bühnenbetriebsamkeit zur bloßen Begleitmusik werden oder ganz verschwinden.

Nicht so hier, denn durch einen gewissen Minimalismus seiner Choreographie trifft Daniel Goldin die ernste, müde Stimmung der Musik, wobei sein Stück den text nicht wörtlich bebildert und mit dem einsamen Wanderer Schuberts auf den ersten Blick nichts zu tun hat.(...) Wie Schubert versteht auch Daniel Goldin, ein Argentinier jüdisch-russischer Abstammung, die »Winterreise« als Weg ohne Ziel, als ständigen Aufbruch. Aber bei ihm ist die Motivation eine andere: Der Choreograph anonymisiert den einsamen Wanderer der »Winterreise«, vervielfacht ihn, macht ihn zum Teil einer entwurzelten, heimatlosen Menge, wie beim Aufbruch in die Diaspora. Und wie bei Schubert ist es eine Reise in den Tod: In schwarzen Mänteln schreiten die Tänzer zu einer Beerdigung, sinken schließlich langsam zu Boden, parallel nebeneinander wie so oft in dem Stück, dessen Bewegungssprache leicht an Pina Bausch erinnert. Ein schwieriges, eher distanziertes als pathetisches Stück, das großen Respekt vor Schuberts Musik beweist.“

Angela Reinhardt, Eßlinger Zeitung, 20. Dezember 2005


„(...) zustande gekommen ist, von Goldin selbst so bezeichnet, „Eine Choreographie zur Musik von Franz Schubert“ – 24 nahtlos ineinander übergehende Szenen, rund achtzig Minuten lang. Es sind Stationen einer Reise im Grenzland des Todes, tänzerische Monologe einer zunehmenden Vereinsamung, denn wenn auch die acht Ausführenden zumeist auf der wie in einen weißen Käfig eingesperrte Todeskandidaten präsent sind, so gibt es doch keinerlei Kommunikation zwischen ihnen, selbst wenn sie sehr gelegentlich körperlichen Kontakt miteinander haben. Umso enger ist der Kontakt zur Musik. Und das  ist die Überraschungsentdeckung des Abends, wie Goldin als eine Art choreographischer Ingenieur die Seele der Musik erkundet. In tänzerischen Sequenzen von überwältigender Reinheit, Klarheit und – ja, man muss es so sagen: ästhetischer Schönheit. Und so wird der Tanz zu einer Reflektion der Seele Schuberts im Augenblick des Abschiednehmens von einer Welt, deren existenziellen Ansprüchen er nicht gewachsen war. Eine so synergetische Verbindung zwischen Musik und Tanz erlebt man höchst selten -  das geht auch noch über die sprichwörtliche Musikalität der Choreographien etwa von Balanchine hinaus, indem sie nicht nur die motorischen und strukturellen Parameter der Musik in Tanz transponiert, sondern deren Qualität in eine eigene Sprache übersetzt. Die von den Tänzerinnen und Tänzern inzwischen nicht nur als eine Art Münsteraner Dialekt, sondern als ihre Muttersprache getanzt wird. Es wäre wirklich ein Jammer, wenn dieses so ganz und gar eigengeprägte tänzerische Tanztheater, wie angedroht, den Sparmaßnahmen zum Opfer fiele.”

oe, Koeglerjournal, 17. Dezember 2005


„(...) Es berührt, wie sich Wörter und Töne in Bewegung und Ausdruck spiegeln. Goldin hat nicht auf die üblichen Muster gesetzt. Das »Schauerliche« des Inhalts kehrt nicht in expressionistisch anmutenden Schautafeln wieder: Seht her, ich weine, also schlage ich die Hände vors Gesicht. So plakativ geht Goldin nicht vor. Versteckter sind die Gesten, so als brüte ein Depressiver über seinen Gedanken und stülpe deren Düsternis über seine ganzen Körper. Die Gliedmaßen erstarren. Innerstes nach außen kehren: Daniel Goldin gelingen solche Bilder, und seinem jungen Ensemble gelingt deren Umsetzung. Es rennt um sein Leben, zittert wie Laub im Wind, friert in Isolation. (...) Schuberts Musik (...) ist nicht der Motor der Choreographie, sie ist ihr Auslöser. Eine Eins-zu-Eins-Illustration wird der Zuschauer vergeblich suchen. Goldins Stück ist viel mehr. Es überträgt individuelle Kümmernisse in allgemein gültige Formen von Melancholie. (...)”

Ingeborg Schwenke-Runkel, Kölner Stadt-Anzeiger, 10. März 2005


„Daniel Goldin ist der Melancholiker unter den zeitgenössischen Choreographen. Erstaunlich, dass der Münsteraner Tanztheaterchef erst jetzt Franz Schuberts „Winterreise“ für einen Tanzabend (...) entdeckte. Zwar steuerte er vor vier Jahren zum Nürnberger Schubert-Programm drei „Lieder“ bei, doch war das Ergebnis enttäuschend. Goldins abendfüllende »Winterreise« aber ist eine seiner stärksten Arbeiten überhaupt. (...) Daniel Goldin ist Großes gelungen, aus den 24 Liedern hat er ein Episoden-Ballett geformt und darin die Essenz der Komposition sublimiert. Die schlicht-schönen Sequenzen wirken wie Zitate des deutschen Ausdruckstanzes. Das Ensemble, tiefschwarz gekleidet, irrt wie ein Schwarm Krähen herum. Aus einzelnen Motiven meißelt Goldin Soli, Duette und andere Formationen. Der choreographische Reichtum ist beglückend. (...) Goldins Tanz ist ehrlich, seine Bildlichkeit bisweilen so direkt, dass sie zur wortgetreuen Übersetzung wird. (...)”

Bettina Trouwborst, Westdeutsche Zeitung, 09. Dezember 2003


„(...) Goldin greift alle Aspekte der Komposition auf, ohne eine Atmosphäre erstarrter Depression zu kreieren. Es ist vor allem die ausdrucksstarke Umsetzung der „lyrisch-musikalischen Anatomie der Melancholie”, die die Zuschauer bei der Uraufführung (...) zu Beifallsstürmen hinreißt. Goldin legt in seiner Choreographie die Facetten dieser ziellosen Reise frei, und die Tänzer brillieren im Ensemble ebenso wie in den Soli. (...) Die Einheit von Text und Musik, die Schuberts »Winterreise« so faszinierend macht, wird in dieser Interpretation durch den Tanz bereichert.“

Petra Faryn, Die Glocke, 09. Dezember 2003


„(...) In tiefer Trauer hat Daniel Goldin Franz Schuberts »Winterreise« choreographiert – so lyrisch-melancholisch wie keiner von ihm, seit die 24 Müller-Gedichte, die Schubert kurz vor seinem Tode als »Zyklus schauerlicher Lieder« vertonte, ein begehrtes Sujet für Choreographen wurden. Nun tanzen acht Mitglieder seines Münsterschen Ensembles des gesamten Zyklus höchst eindrucksvoll und bewegend. (...)“

Marieluise Jeitschko, Neue Osnabrücker Zeitung, 10. Dezember 2003


„(...) Das Münsteraner Ensemble präsentiert sich als glänzend aufeinander eingetanzte Kompanie. Zum Schluss stehen sie alle da in langen, schwarzen Mänteln. Gemeinsam, aber allein sinken sie zu Boden – die letzte Hoffnung verloren, ein restlos begeistertes Publikum gewonnen.“

Simone Thielmann, WDR 5 – Scala, 09. Dezember 2003


„(...) Aber Goldins Ausdruckstanz passt in seiner schlichten Eleganz der Bewegungen, dem aufrichtigen Ernst und der Vergegenwärtigung des tiefen Weltschmerzes von Schuberts Musik und Müllers Gedichten so perfekt, wie es bisher noch keinem Choreographen gelang. (...)“

Marieluise Jeitschko, Die Deutsche Bühne, Nr.1, Januar 2004


„(...) Goldins Choreographie ist in dieser „Winterreise” wie ein Kontrapunkt zu Schuberts Musik. Mit aufgeladener dramatischer Gestik hält sie sich zurück, ist mitunter zeichenhaft verschlüsselt, dann wieder bildhaft direkt und schafft es gerade dadurch, sich als eigene, eindrucksvolle Stimme in dieser Produktion zu behaupten.“

Patricia Stöckemann, Tanzjournal, Nr. 1, Februar 2004


„Das Licht taucht die weiße Bühne in eisige Kälte. Wie Schatten bewegen sich die Tänzer in ihren schwarzen Roben. In der wunderschönen Choreographie nehmen sie die Zuschauer mit auf die ergreifende, 1827 von Franz Schubert komponierte „Winterreise“.

Macht schon die Musik des berühmten Liederzyklus melancholisch – die sanften, weichen Bewegungen der Tänzer der Städtischen Bühnen Münster tun ein Übriges. Im Dezember 2003 hatte Goldin die „Winterreise“ uraufgeführt. Jetzt nahm er das erfolgreiche Stück wieder ins Programm. Premiere war am Samstag im Kleinen Haus.

Es ist die ziellose Reise eines unglücklichen Mannes durch eine erstarrte Winterlandschaft. Mit der Erfahrung unerfüllter Liebe irrt er umher, stellt sich vor, wie alles hätte sein können. Glück, Schmerz, Loslassen – das sind Themen, die wohl kein Ensemble so gut übersetzen kann wie Goldins. Zwischen den weißen Wänden, Baumstämmen und einem Stacheldrahtzaun bewegt es sich wie in Trance auf ein dunkles Ziel zu.

Von „glühenden Mädchenaugen“, vom Wunsch, „noch einmal rückwärts zu sehen“, von der der Beschwerlichkeit des Lebens handeln die von Wilhelm Müller geschriebenen Lieder. „Am Brunnen vor dem Tore“ ist wohl das Schönste. Franz Schubert, der die Texte ein Jahr vor seinem Tod vertonte, waren die Gefühle nicht fremd.

Mal tanzen die Männer, als hielten sie die Frau im Arm. Mal quält sich Tsutomu Ozeki über den Bühnenboden in dem fast unmöglich scheinenden Ansinnen, weiterzugehen. Der Tänzer fällt auch in weiteren Soli durch seine intensive Interpretation auf. Das Gleiche gilt für Kollegin Karen Ilaender.

Unweigerlich strebt die Geschichte einem düsteren Ende zu. Bedrückend der Kontrast zwischen dem Weiß der Bühne und den schwarzen Mänteln der Tänzer, die nach 80 Minuten wie in einem Trauerzug über die Bühne ziehen. „Alter, soll ich mit dir gehen?“, heißt es in einem Lied. Wer ist der Leiermann, der leise auf der Bildfläche erschienen ist? Die Kunst als letzte Zuflucht oder ganz banal der Tod?“

Andrea Kutzendörfer, Die Glocke, 08. Februar 2010

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