ISOLA
„Wenn die Damen mit trippelnden Schritten riesige Sträuße blühender Kirschzweige hereintragen und die Männer in Röcken aus knisternder Goldfolie Sträuße aus kristallin glitzernden Wasserflaschen im Arm halten, sind Japans Poesie und fernöstlicher Charme ganz nah. Aber die Idylle trügt. Ein schrill bunter makabrer Mummenschanz setzt nach düsteren Ritualen ein. In zwei völlig gegensätzlichen Teilen seines 90-minütigen neuen Tanzstücks „Isola“ tastet Daniel Goldin mit seinem 12-köpfigen Ensemble in der Ausstattung von Matthias Dietrich und Gaby Sogl das Terrain „Insel“ ab. Womöglich hat den Erkundungen im Probenverlauf Japans Naturkatastrophe eine neue Dimension eröffnet, aktuelle Schärfe und Brisanz verliehen.
Ein hölzerner Steg ragt weit ins Parkett. Durch die Öffnung in einer hohen Bretterwand fällt ein Lichtstrahl bis zu den abgebrochenen Pfählen, die das frei schwebende schmale Holz tragen. Alice Cerrato im strengen Hosenanzug marschiert nach vorn und rezitiert mit leiser Stimme und sparsamer Gestik wohl italienische Definitionen von „Insel“ („isola“ – „desolata“ - „isolazione“….ist auszumachen). Hsuan Cheng tänzelt mit geschmeidigen, eleganten Bewegungen herein. Immer mehr Menschen in dunklen Anzügen, Overalls, Hosenröcken treten auf – mit ernsten Minen, in sich gekehrt. Ein grüblerischer Asket Damiaan Veens fällt auf, ein kurzes Aufblitzen von Fröhlichkeit auf dem Gesicht der zierlichen Helena Maciel Fernandino, die weit ausladenden Gesten von Ines Fischbach, die hohen Sprünge von Antonio Rusciano. Als Cluster durchmessen alle gemeinsam den Raum diagonal, fädeln sich auf zum Defilee auf dem Catwalk.
Elegische Kammermusik mischt sich mit motorisch vibrierender südamerikanischer Folklore, Oboe und Klarinette wetteifern mit Kindergeplapper, sakrale Klänge (des bulgarischen Frauenchors „Le Mystère“) unterstreichen die Aura mysteriöser Rituale. Ohne Zäsur greift ein Musikstück in das nächste, wechseln Soli mit dynamischen Gruppensequenzen. Seltene Berührungen wirken harsch: Männer schultern Frauen und schleppen sie wie Mehlsäcke weg. Hart stoßen Hände, fallen Körper gegen die Wand.
Dann plötzlich fesselt die berückend poetische Aura Japans den Blick. Doch ebenso unvermittelt stürzt die Wand um. Wie ein Leuchtturm ragt die schmale Lichtsäule aus dem Eiland. Fröhliche Menschen in bunten T-Shirts nutzen es als Disko-Tanzfläche. Aber die Katastrophe greift Platz: Von den Seiten schieben Männer mit Mundschutz in weißen Schutzanzügen gelbe Einkaufswagen und Schubkarren voll Wasserflachen herein, bauen ein Kunstmeer um die Insel (während Charles Trénet „La Mer“ besingt). Ein Wasserstrom aus blauer Plastikfolie durchschneidet die Insel, getränkt mit Öl, das die Schutzkleidung der Arbeiter besudelt. Bald sind alle Menschen maskiert, tragen gelbe Gummihandschuhe und -stiefel. Alice Cerrato hat sich einen Flaschengürtel als Notration um die Taille geschnallt. Denn auch das kostbare Nass verändert sich. Mit brauner Soße überschütten übermütige Freunde einen Badenden in einem Kinderpool. Bevor das Lachen über die ulkigen Episoden im Halse steckenbleibt, verlischt abrupt das Licht. Applaus braust auf.”
Marieluise Jeitschko, tanznetz.de, 30. Mai 2011
„Ein Steg beherrscht die Wege der Tänzer. Wie Models auf dem Catwalk eilen und tänzeln sie herauf und hinunter. Doch langsam erobern sie den Raum neben dem Laufsteg, Begrenzungen fallen, bis ihnen die Welt als bunte Spielwiese zu Füßen liegt. Durchaus heiter ist Daniel Goldins neues Stück „Isola” gestimmt, das im Großen Haus in Münster zur Uraufführung kam. Aber Goldin wäre nicht Goldin, wenn nicht auch dieses Ballett melancholisch-reflexiv auf die Isoliertheit des Menschen verwiese.
Isola ist das italienische Wort für Insel. Goldin geht von der Definition einer Isola im physischen Sinne aus – ein isolierter Ort im Wasser – und auch von einer Insel im übertragenen Sinne, auf die man sich zurückzieht, die sich jeder Mensch selbst schafft. Den melodischen Fluss der italienisch vorgetragenen Definition überträgt Goldin direkt in flüssige, aber ritualisierte Bewegungsabläufe. Sie erinnern an die chinesische Meditationskunst des Tai Chi. Ständig während der anderthalb Stunden, die „Isola” dauert, wird er auf formalisierte Gesten und auf Bewegungsschleifen zurückgreifen. Der Mensch bleibt er selbst, trägt seine Prägung mit sich, auch wenn er sich neue Räume erschließt. Aus aneinander vorübereilenden Menschen werden Gruppen, wird ein Miteinander.
Goldin mischt Tanztheater von Bausch'scher Prägung mit Ballett, Modern Dance und Asiatischem zu einer ansprechenden, aber weitgehend unspektakulären Mischung. Reizvoll ist die Sequenz, in der das Ensemble, gekleidet in dunkelblaue, an japanische Kleidung erinnernde Hosen und Jacken (Kostüme: Gaby Sogl), mit Kirschblüten in den Armen einhertrippelt. Die Bühne (Matthias Dietrich) ist da noch minimalistisch gestaltet, mit dem braunen Steg, dessen Ende auch in einen See münden könnte, und einer Trennwand, aus deren Tür die Tänzer direkt auf den Laufsteg treten. Reinhard Huberts Lichtgestaltung setzt auf sanftgoldene Akzente auf Blau, auf ein Spiel von indirektem und Seitenlicht. Goldin und sein Team suggerieren asiatische Dezenz, der eine schön anzusehende, auch berührende, aber leicht vorhersehbare Entwicklung der Raumeroberung durch das Ensemble entspricht. Schließlich fällt die Trennwand, aus dem Hintergrund eilen die Tänzer nun ungeordnet. Kraftvolle Soli zeigen sie, besonders die elegante Hsuan Cheng und Ines Fischbach, die sich mit dem Selbstbewusstsein einer trainierten Kampfkünstlerin bewegt.
Aber der eben noch geweitete Raum wird blockiert: Figuren in Spurensicherungs-Overalls stellen halbgefüllte Plastikflaschen in Gruppen auf die Bühne, einer baut eine Reihe auf, die er wie Dominosteine wieder umschubst. Das wirkt nicht nur unvermittelt; Goldin schafft es auch nicht, eine klare Intention zu vermitteln: dezenter Klamauk, wo zupackende Regie notwendig gewesen wäre. So wird das Zusehen ungewollt zum Miträtseln. Das, obwohl Goldin schöne Einfälle hat. So tanzt Alice Cerrato mit einem „Tütü” aus glänzenden Plastikflaschen zu Charles Trenets „La Mer” - eine fröhliche Szene. Überhaupt gefällt die Musik: eine stimmungsvolle, zurückhaltende Mischung aus Weltmusik, Chanson und minimalistischen Klängen.”
Edda Breski, Westfälischer Anzeiger, 29. Mai 2011
„Die Bravo-Rufe und stehenden Ovationen im Großen Haus der Städtischen Bühnen wollen gar nicht mehr enden. Die Uraufführung von Daniel Goldins Tanztheater „Isola“ hat anscheinend die Herzen berührt. Was hat Goldin getan? Er hat seine zwei konträren Seiten gezeigt.
Ein leicht nach oben gewölbter Bootssteg ragt in den Zuschauerraum hinein, zu seinen Seiten abgebrochene Pfähle. Tänzerin Alice Cerrato wirkt genauso gebrochen. Ein Lichtstreifen weist ihr wie ein Catwalk den Weg nach vorn, schüchtern steht sie an der Rampe, rezitiert mit dünner Stimme und auf italienisch einen Lexikoneintrag über „Isola“, die Insel.
Goldin beginnt so düster und ernst wie gewohnt, doch so wird es nicht bleiben. Der Choreograf der Städtischen Bühnen hat den Abend geteilt. Poetische Stimmungen, melancholische Bewegungsmuster und Gesten des Schmerzes dehnen sich im ersten Teil zur Verzweiflung aus, Chaos und grelle Bilder plakatieren den zweiten Teil mit Kitsch und Ironie. Man wird sich hier auf keinen Fall langweilen. Es ist ein großer Tanzabend. Aber man wird kaum neue Bilder sehen.
Schlabbernde Anzüge
Goldin schickt seine zwölf wunderbaren Tänzer zunächst in dunklen, schlabbernden Anzügen (Kostüme: Gaby Sogl) auf die von dunklen Wänden gerahmte Bühne (Matthias Dietrich). Er lässt sie zu Dschungelgeräuschen und Babygeplapper, Electropop und Trommeln die Weite nach allen Seiten durchschreiten und durchkriechen. Die Tänzer zeigen beinahe brutale Gesten: Hände zerhacken die Luft, beginnen zu zittern. Ines Petretta steckt sich die Faust in den Mund, Karen Ilaender rauft sich das Haar. Berührung untereinander gibt es fast nie. Zu den afrikanisch anmutenden Gesängen eines bulgarischen Frauenchores (Le Mystère des Voix Bulgares) klammert sich eine Tänzerin wie eine Ertrinkende an einen Kollegen – er lässt sie ungerührt fallen.
Die Insel als Isolationsort. Wie in sich selbst gefangen liebkosen einige Tänzer Kirschblütensträuße, andere umarmen Sträuße aus Wasserflaschen. Nicht einmal zum Tango finden sich Paare. Es ist ein einsamer Tango zu zwölft. Und an genau dieser Stelle kommt der Bruch. So überraschend und radikal, dass er vom Publikum mit einem erstaunten Laut kommentiert wird. Die Tänzer kippen, eine Bühnenwand kippt: Die Manege ist frei für die schrille und grelle Zivilisationskritik.
Atomkatastrophe in Japan
Das Meer kommt als blaue Plane daher, Einkaufswagen mit halb gefüllten Wasserflaschen werden auf die Bühne geschoben, die Tänzer tragen Schutzanzüge und Mundschutz. Die Wasserflaschen, mit dem Verschluss nach unten aufgestellt, erinnern an Brennelemente. Die Atomkatastrophe auf der Insel Japan ist auf der Bühne. Einige Anzüge sind schwarz beschmiert. Also ist auch die fast vergessene Ölpest im Golf von Mexico wieder da. Die vermummten Tänzer in Gummistiefeln bewegen sich trotz der unbequemen Kleidung so ausgelassen wie nie zuvor. Mit Bikini, Badekappen und weißem Anzug versuchen einige die Normalität, doch es bleibt ein Rave im Schatten der Apokalypse. Auch die Musik spiegelt das Chaos. Die stampfenden, rhythmusgepeitschten Klänge werden von dem Chanson „La Mer“ von Charles Trenet überlappt. Vor acht Jahren hat Goldin in seiner „Hamletmaschine“ ähnlich Kritik geübt. Viel verändert hat sich seitdem nicht. Weder in der Welt noch bei Goldin.”
Sabine Müller, Münstersche Zeitung, 29. Mai 2011