©MatthiasZölle

El galpón

„(...)„Tanzt, Kinder, tanzt … sonst sind wir verloren“. Daniel Goldin hat sich Pina Bauschs leidenschaftlichen Appell zu Herzen genommen. Seine neue Choreografie „El galpón” wirkt fast wie eine Hommage auf die Welttheater-Revuen seiner vor zwei Jahren verstorbenen Lehrmeisterin. Soviel getanzt wie diesmal wurde hier fast nie. So bunt, sexy und fröhlich geht es selten zu. Geheimnisvolle Szenen weisen dieses Tanztheater dennoch als echten Goldin aus. Das Premierenpublikum zeigte sich am Samstagabend im brechend vollen Kleinen Haus begeistert. Es applaudierte den neun Tänzern und dem Regieteam minutenlang.

Auf den Hinterhöfen von Buenos Aires, in Schuppen und Lagern (galpones) entwickelte sich Ende des 20. Jahrhunderts eine Subkultur mit Galerien, Cafés und Theatern. Hier sei, sagt Goldin, auch heute noch das multikulturelle Flair der „Sainete criollo“ – satirischen Einaktern mit Musik und Tanz – zu spüren, die die Migranten des 19. Jahrhunderts entwickelten. Matthias Dietrich hat das Ambiente wieder vorzüglich eingefangen: an den schäbigen Blech- und Eternitwänden entlang stehen ausrangierte Zugabteil-Bänke, billige Holztische und Stühle. Rechts zwei Türen für „Herren” und „Damen”, links ein finsterer Ausgang und eine Feuerleiter, hinten ein Schiebetor, davor eine halbhohe Mauer. Der Raffvorhang mit Schäfchenwolken-Himmel funktioniert nur noch halbwegs.(...) Zwischendurch rattert ein Zug vorbei. Regen pocht auf das billige Dach des galpón. Gaby Sogls Kostüme tragen mit schier unerschöpflichem Fantasiereichtum zum Effekt des Mosaiks aus bunten Tanzszenen bei.”

Marieluise Jeitschko, Westfälische Nachrichten, 24. Oktober 2011


„Goldin erzählt von bunten Hunden, von Armut, Gewalt und drangvoller Enge in diesem oft romantisierten Ambiente. Und er spannt den Bogen zum Hier und Jetzt. Seine Anklage: Wo zwischen Industrieruinen Kunst entstehen könnte - ob in Argentinien oder Deutschland - regieren in Wahrheit oft Oberflächlichkeit und der schnöde Mammon.

(...)Seit 16 Jahren leitet der stark vom Folkwang-Theater beeinflusste Choreograph die Tanzsparte in Münster und erarbeitete sich bei einem treuen Publikum einen ausgezeichneten Ruf. Wenn das Ensemble in der Schlussszene gläserne Ballettschuhe mit hochhackigen Pumps zerschlägt, könnten daher durchaus auch eigene Visionen gemeint sein, die da zu Bruch gehen. (...)
Goldins Tanztheater enttarnt den Mythos der romantischen Hinterhöfe. Eine Szene, in der sich ein Mann mit Aktentasche auf eine enge Sitzbank drängt, ihr auf den Leib rückt, indem er seine Lektüre ausbreitet, sein Brot und seine Schnapsflasche auspackt, auf dem Handy ein lautes Gespräch führt, endet damit, dass sich die beiden ins Gesicht spucken. Großstadtalltag, wenn viele Menschen auf engem Raum miteinander auskommen müssen. Die Menschen quälen sich auf ihrer Suche nach Glück. Tänzerische Soli stehen für individuelle Hoffnungen auf Liebe und Anerkennung.”

Ursula Pfennig, Westfälischer Anzeiger, 24. Oktober 2011


„(...)Goldin scheint in seiner neuen Choreografie „El galpón“ einen bösen Blick in die Zukunft zu werfen. In gleichförmig schlichten Bewegungen zeigen seine Tänzer eintönige Massenszenen von Bollywood-Filmen über krude Musical-Performances bis hin zur Untermalung eines Madonna-Hits. Das ist Unterhaltung ohne Tiefgang, Idee und Anspruch und wirkt wie eine Warnung. (…) Dollarnoten werden von einem Pelzmantelträger präsentiert, einer Frau werden immer wieder Sektgläser aus der Hand geschlagen und ein Penner sucht einen Schlafplatz. Zwischendurch taucht stets ein Tänzer mit Hundemaske auf. Wie ein verstoßener, im wahrsten Sinne armer Hund schleicht er mit hängendem Kopf über die Bühne. Auch in dieser Szene könnte man einen Hinweis auf die geschassten Tänzer erkennen. Doch letztlich sind Bilder wie dieses zu schwach, zu mutlos, um wirklich Protest zu sein.
Dabei scheinen Goldins emotionaler Tiefgang, die rührende Schönheit seines Choreografiestils zwischenzeitlich immer wieder durch. Und sie wird das begeisterte Publikum zu Recht vermissen.”

Heiko Ostendorf, Münstersche Zeitung, 24. Oktober 2011


„Schnell, geradezu hektisch, tanzt das Ensemble im Rampenlicht. Daniel Goldin lässt einen muskelbepackten Rugby-Spieler über die Bühne wackeln, eine Nonne im Schlauchkleid wirft Konfetti. Mit Hundemaske hüpft ein Tänzer kläffend auf allen vieren, einer anderer tanzt Tango in Unterhose und High Heels. Wer Daniel Goldins melancholisch-lyrische Arbeiten kennt, dürfte von derart skurrilen, überdrehten Szenen überrascht gewesen sein. „El galpón“ ist Goldins letzte Uraufführung an den Städtischen Bühnen Münster; seit 1996 leitet er dort die Tanztheatersparte.

Schon die Kostüme stechen ungewöhnlich grell ins Auge: Ein Tänzer in hautengem, orangenen Anzug und roten Stiefeln fordert Geld, ein anderer sitzt breitbeinig in knapper Lacklederhose da, den Schürhaken demonstrativ gezückt. Die Stimmung ist angespannt: Zwei Passagiere sitzen, nebeneinander gezwängt, auf einer schmalen Bank im Zug, bis sie einander aggressiv anspucken, Trinker und Bettler treten auf; bedrohlich marschiert das Ensemble immer wieder aufs Publikum zu.
(…) Lebensfreude geht in Nachtclubs und teurem Kommerz zugrunde, Dollarscheine türmen sich auf der Straße; am Ende werden bunte Spitzenschuhe auf Silbertellern serviert und gewaltsam zerstört.(…)

Alice Cerrato, Goldins wunderbare, langjährige Tänzerin, blickt erstaunt auf Figuren, die, seelenlos wie Puppen, auf der Bühne stehen; als holte sie der Tod, wird sie ausgezogen und fortgetragen. Der verzweifelte Aufschrei eines Choreografen, der sein Tanztheater sterben sieht?”

Isabell Steinböck, Die Deutsche Bühne, 22. Oktober 2011


„Als 2007 das von Daniel Goldin seit 1996 geleitete Tanztheater an den Städtischen Bühnen auf der Kippe stand, hatte sein einschlägiges Stück „(t)SchLU(ü)S(ß)S !?!“ , Schluss und Tschüss zusammenbindend, noch ein Fragezeichen im Titel. Jetzt ist das Aus definitiv, und „El galpón“, seine letzte Choreographie am Kleinen Haus, reagiert darauf mit einer kraftvollen und auch etwas trotzigen Demonstration seines Könnens.(…) Deutungsoffen ist der stumme Vorwurf der Unmenschlichkeit, wenn Alice Cerrato wie eine leblose Puppe von Antonio Rusciano an- und ausgezogen und mal hierhin, mal dahin geschleppt wird. Oder, schlimmer, wenn Damian Veens mit trauriger Hundemaske verloren über die Bühne streicht.

Anfangs- und Schlussszene sind voller trotzigem Stolz. Wenn die zum breitschultrigen Muskelmann ausgepolsterte Ines Petretta auf ihrer Trillerpfeife zum Abpfiff bläst, kommt nur ein schwaches Säuseln aus dem Gerät und entlarvt die Stärke als puren Schein(...)Ein starker Schluss, den das Publikum mit nicht enden wollendem Applaus, vielen Bravos und Trampelbeifall bedachte. In ihm war deutlich die Versicherung enthalten, Goldins und seines Ensembles auch nach fünfzehn Jahren nicht überdrüssig und zum „Tschüss !“ bereit zu sein.”

Hans Butterhof, Recklinghäuser Zeitung, 09. November 2011

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