Das Tanztheater Münster
1996 - 2012
1996 hat Daniel Goldin die Leitung des Tanztheaters der Städtischen Bühnen Münster übernommen. Dort hat er für die kommenden 16 Jahre seine künstlerische Heimat gefunden und sich dank der hervorragenden Qualität seines choreographischen Werks einen festen Platz in der deutschen Tanzszene erarbeitet. Somit ist das Tanztheater der Städtischen Bühnen Münster unter Daniel Goldin zu einem Aushängeschild Münsters geworden.
Galt Goldin 1996 und 1997 noch als „wichtiger Nachwuchs-Choreograph“ (laut Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Ballett International/Tanz aktuell“), so genießt er heute Anerkennung als reifer Künstler. Die hohe Qualität seiner Arbeit ist unumstritten. Dies artikuliert sich unter anderem in den Formulierungen der überregionalen Fachpresse „Ein Meisterwerk deutschen Tanztheaters“ („TanzAffiche“ zu „Hinter der Nacht“), „weit über dem Durchschnitt der neueren Tanzstücke“ („FAZ“ zu „Die anderen Leute“) und „ein Glanzlicht moderner Tanzkunst“ („Theater pur“ zu „Lachrimae mundi“) heißt es beispielsweise in Rezensionen zu Tanzabenden der letzten Jahre. Jochen Schmidt, einer der wichtigsten deutschen Tanzkritiker und intimer Kenner der nationalen und internationalen Tanzszene, bezeichnet das Stück „Stimmen, Hände, brüchige Stille“ (2001) im bundesweiten Vergleich sogar als „eines der ungewöhnlichsten und wichtigsten der Spielzeit“ und würdigt die „Brahms.Variationen“ (2004) in „ballettanz“ als „Goldins bestes Stück seit langem“.
Daniel Goldins Choreographien bestechen vor allem durch ihren einzigartigen Stil. Dessen Wurzeln liegen im Deutschen Ausdruckstanz, den er bei der deutschen Tanzpädagogin Renate Schottelius, einer Schülerin Mary Wigmans, in seinem Heimatland Argentinien studierte.
Neben Goldins außergewöhnlichem choreographischem Stil bestach das Tanztheater Münster durch die Ausdrucksstärke seiner Tänzerpersönlichkeiten. In über 30 Choreographien, die in Münster für das Theater entstanden sind, entwickelte sich eine homogene und künstlerisch reife Kompanie, die technisch auf dem höchsten Niveau tanzt. Fast alle Tänzer haben ihre Ausbildung an der renommierten Folkwang Hochschule in Essen erhalten. Viele von ihnen verband eine langjährige Zusammenarbeit mit Daniel Goldin. „Was fasziniert, sind die vielseitige Virtuosität und die individuelle Ausstrahlung seiner Tänzerinnen und Tänzer“, schrieb auch Marieluise Jeitschko. Andere Kritiker sprachen von einem „außergewöhnlichen“ oder „ausdrucksstarkem Ensemble, das sich tänzerisch und technisch sehr stark präsentiert“.
Darüber hinaus engagierte sich das Ensemble in der tanzpädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Im Rahmen von Fortbildungen und Workshops boten sie auch Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit ihr Wissen über den Tanz zu vertiefen und dieses an Schulen den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln.
Im Herbst 2002 erfuhr Daniel Goldins Arbeit eine besondere Auszeichnung: Er zählt zu dem erlesenen Kreis der 101 internationalen Choreographen, die in dem Buch „Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band“ des renommierten Tanzkritikers Jochen Schmidt porträtiert sind.
Für seine Choreographie zu Schuberts „Winterreise“ wurde Daniel Goldin bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift „ballettanz“ im Sommer 2004 in der Kategorie „herausragender Choreograph“ nominiert. „Die Deutsche Bühne“ - Deutschlands wichtigstes Magazin für die deutschen Theater - nannte in ihrer jährlichen Kritikerumfrage das Tanztheater 2006 gleich zweimal: als „herausragenden Beitrag zur aktuellen Entwicklung des Tanzes“ und als „herausragenden Beitrag zur aktuellen Entwicklung von theatraler Raumsituation / Bühnenbild und Kostüm“. Im gleichen Jahr feierte Daniel Goldin sein 10-jähriges Jubiläum an den Städtischen Bühnen Münster mit dem Doppelabend „L’espace de Ravel / L’Enfant et les Sortiléges“, der dem französischen Komponisten Maurice Ravel gewidmet ist. Der Abend entstand in Zusammenarbeit mit dem Sinfonieorchester Münster und dem Musiktheater der Städtischen Bühnen und wurde durch die Kunststiftung NRW und das Land NRW gefördert.
In der Spielzeit 2007/08 fügte Daniel Goldin die drei abendfüllenden Werke „Papirene Kinder – Ein choreographischer Roman“, „In Öl und Nebel“ über den jüdischen Maler Felix Nussbaum und „Tagelang und Nächtelang“, ein Portrait über Kafkas Geliebte Milena Jesenská zur „Verfolgungstrilogie“ zusammen und zeigte sie in Kooperation mit der Wanderausstellung „Sonderzüge in den Tod. Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn“ der Deutschen Bahn AG und Beate Klarsfeld. In der darauffolgenden Saison entstand der Tanzabend „Von Licht und Fremde“ in Kooperation mit dem LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster anlässlich der Ausstellung „Orte der Sehnsucht. Mit Künstlern auf Reisen“.
Ein weiterer Höhepunkt wurde 2010 der Tanzabend „Projekt Cage“ mit Live- Musik des amerikanischen Komponisten John Cage, gespielt von der Gruppe „The lilac thruth“, und in Zusammenarbeit mit dem Folkwang Tanzstudio. Durch diese Kooperation konnte Daniel Goldin zum dritten Mal mit Tänzern dieses international bekannten Ensembles zusammenarbeiten, dessen Mitglied er 20 Jahre zuvor selber war. Dieser Nähe zur Tradition des Folkwang-Stils und dem Tanztheater folgend, lud Goldin in den beiden folgenden Spielzeiten den Choreographen Mark Sieczkarek und Susanne Linke, die Grand Dame des Deutschen Tanzes, ein, in Münster mit seinem Ensemble zu arbeiten und Stücke zu kreieren. Er selber schuf in dieser Zeit einen Tanzabend zum Liederzyklus Dichterliebe von Robert Schumann und interpretierte damit erneut Klassische Musik (wie schon in „Der Tod und das Mädchen“ oder die „Goldberg-Variationen“ in „Myriaden“) mit seiner ihm eigenen choreographischen Sprache neu. „El galpón“ zeigt seine große Affinität zur Weltmusik und öffnet dem Publikum einen Einblick in seine argentinische Heimatstadt Buenos Aires mit einem Tableaux bunter Menschengestalten.
Die intensive künstlerische Zeit in Münster beendete Daniel Goldin mit seiner Kompagnie nach 16 Jahren im Juni 2012 mit dem Stück „Finissage: ...quien me quita lo bailado!“, einer Werkschau seiner bisherigen choreographischen Arbeit.
Adiós
„...Ein zeitgenössisches Tanztheater, dem es immer wieder gelingt, auch das Große Haus mit seinen fast 1000 Plätzen zu füllen, ist schon höchst ungewöhnlich. Doch gerade auch im intimen Rahmen des Kleinen Hauses mit seiner wunderbar großen Bühne konnte sich in den vergangenen Jahren in Münster ein Tanztheaterpublikum herausbilden, das sich mit großer Offenheit auf poetische, lyrische Sprache Goldins einließ. Immer folgte die Choreographie einem Erzählstrang, der sich auch ohne Worte vermittelte, deren Weg in die subjektive Wahrnehmung sich eben nicht über Wörtersprache, sondern wortfrei vermittelte. Nicht möglichst kontrastreich, verblüffend, irritierend zusammengestellte Szenenfolgen, sondern choreographisch klar geführte Linien, auch bei der Ausgestaltung widersprüchlicher Phänomene; ein Spannungsaufbau, bei dem die Zuschauer in eine körperlich vermittelte Wahrnehmungsdimension hineingezogen wurden, die nicht mehr nach Wörtern, sondern nach Tiefe sucht. Nicht den Zuschauer verwirrt zurücklassen und die modischen Trends bedienen, dass ein Kulturereignis möglichst schräg, möglichst verwirrend sein soll, man Bekanntes an ungewöhnlichem Ort, zu ungewöhnlicher Tageszeit zu präsentieren habe, sondern einen eigenen Ausdruck zeigen, der sich aus vielen Kulturen speist und sich gerade deshalb ganz elementar erschließt. Es ist der Tango in den argentinischen Hinterhöfen, die Musik im jüdischen Schtetl, das Experimentieren mit seriellen Klängen, das klassische Streichquartett ebenso wie die Schubert-Lieder mit ihrer Intimität. Es ist der Tänzer, die Tänzerin, die sich ihrer eigenen Körperlichkeit und Verletzlichkeit bewusst sind, extremste Bühnenpräsenz, es ist ein tiefes Musikverständnis, ein immer wieder vorsichtig tastender Zugang zu einer neuen Verbindung von Melodie, Rhythmus, Bewegung, Licht und Farbe...
...In den vergangenen sechszehn Jahren hat die Companie viele personelle Veränderungen erfahren, manchmal nur in Nuancen, manchmal sehr prägnant. Bei einer Kunstform, die so stark an die Ausdruckkraft der Tänzerin, des Tänzers gebunden ist, nimmt jedes neue Ensemblemitglied neue Deutungen vor – für die Zuschauer war jede Wiederaufnahme eine Neuentdeckung und auch das war eine Kraftquelle in der choreographischen Arbeit von Daniel Goldin: der schöpferischen Kraft jedes einzelnen Mitglieds den Raum zu lassen, der für Expression und Tiefe, für berührenden künstlerischen Ausdruck unerlässlich ist.
Dem Tanztheater Münster ist es immer wieder gelungen, Menschen zu berühren, den Zuschauerinnen und Zuschauer zu vermitteln, etwas Bedeutendes und zutiefst Menschliches gerade eben und höchst persönlich entdeckt zu haben...“
Helga Boldt, Mai 2012
Dezernentin für Schule, Kultur und Sport der Stadt Münster (1996-2004)