Von Buenos Aires an die Lahn


TanzArt ostwest: Gastchoreograf Daniel Goldin kreiert „Von den Winden” in Gießen

Der Gastchoreograf für die Auftaktveranstaltung der dies­jährigen TanzArt ostwest ist kein Neuling der freien Szene, son­dern ein gestandener Tanzdirek­tor. Daniel Goldin hat 16 Jahre lang das Tanztheater der Bühnen Münster geprägt, im vergange­nen Sommer endete diese kreati­ve Zeit für ihn und seine Tänzer aufgrund eines Intendanten­wechsels. Er ist immer noch ein bisschen traurig darüber, denn „damit gibt es kaum noch Tanz­theater-Ensembles in Deutsch­land, deren Tanzstil auf der Tra­dition des deutschen Ausdrucks­tanzes basiert”. Die Folkwang-und die Palucca-Schule als Aus­bildungsstätten gibt es noch, ein­zelne Tänzer und Choreografen, und Wuppertal versucht das Erbe von Pina Bausch weiterzuführen.

Daniel Goldin wurde in Argen­tinien geboren (1957), er ist der Nachfahre von ukrainischen Ju­den, die um 1900 auswanderten ins »goldene Amerika«. Seine prägenden Tanzlehrerinnen wa­ren: Renate Schottelius, die bei Mary Wigman studiert hatte, und Cristina Barnils, die Schülerin von Martha Graham war. Große Namen des deutschen Aus­druckstanzes, deren Protagonis­ten durch die NS-Politik ins Exil getrieben wurden und die deut­sche Tanzrevolution auf der an­deren Seite des At­lantiks verbreiteten. Goldin, sozusagen der tänzerische En­kel, begab sich 1986 auf die Spuren des Ausdruckstanzes in Deutschland. Er stu­dierte am Folkwang-Institut in Essen, tanzte unter der künstlerischen Lei­tung von Pina Bausch, in Stücken von Urs Dietrich, Su­sanne Linke und anderen.

Goldin wurde vielfach geehrt. Der Tanzkritikerpapst Jochen Schmidt schreibt: „Wenn der Ausdruckstanz der 1920er Jahre der deutsche Tanz schlechthin gewesen ist, dann ist der Argen­tinier Goldin der deutscheste al­ler Tanztheaterchoreografen.”

Goldin gründete eine eigene Compagnie und wurde mit „Papirene Kinder” 1995 schlagartig bekannt, die Tournee führte un­ter anderem in den Mousonturm Frankfurt. In diesem „Choreografischen Roman„ thematisierte er die Situation von Emigration und An­kunft in der neuen Heimat, davon wie Kontakte in die alte Heimat nur noch über Briefe aufrechterhal­ten wurden. Seine Großmutter hatte im­mer ein jiddisches Lied von den „papie­renen Kindern” ge­sungen. Das Thema bearbeitete er in weiteren Stücken als er 1996 in Münster die dortige Tanzleitung übernahm. Hier konnte er sich den Traum von ei­nem festen Ensemble erfüllen, von Kontinuität in der Arbeit und gemeinsamer Weiterent­wicklung. Eine großartige  Zeit, so Goldin im Gespräch, die sich andere in seiner Branche heutzu­tage vergeblich wünschen.

Er kennt den Gießener Ballett­direktor seit dem Start des TanzArt-ostwest-Festivals, als Assam noch in Halberstadt war. Die Einladung nach Gießen be­stand schon lange, doch hat es aus terminlichen Gründen nie geklappt. Erst jetzt konnte As­sam ihn gewinnen, als Choreo­graf nach Gießen zu kommen. Zuletzt war Goldin in Buenos Aires, hat das Tanzensemble (Leitung: Mauricio Wainrot) am Theater San Martin unterrichtet, mit dem er noch in diesem Jahr eine Choreografie erarbeiten wird. In Gießen entsteht seine erste neue Arbeit nach Münster, sie ist für ihn auch ein Experi­ment. Denn er hat nur zweiein­halb Wochen Zeit, um seine Vor­stellungen und seinen Tanzstil mit 15 ihm fremden Tänzern und Tänzerinnen einzustudieren. Zur halben Gießener Tanzcompagnie kommen noch Gäste aus Shenzhen/China. Doch ist die TCG sol­ches Arbeiten gewohnt, hier sind immer wieder Gäste mit im Team. „Es läuft wunderbar, sie sind alle sehr offen.”

Als Leitmotiv hat er ein Ge­dicht des spanischen Dichters Miguel Hernández ausgesucht, das dieser in den 1930er Jahren, also im spanischen Bürgerkrieg geschrieben hat. „Vientos del pueblo me llevan /Winde des Vol­kes tragen mich” lautet die erste Zeile. Goldin geht es um Empfin­dungen, die sich einstellen unter dem Einfluss der sich ständig wandelnden Welt. „Was machen die vielen Informationen, die täglich auf uns einstürzen mit
uns? Ich erzähle, aber ohne eine konkrete Geschichte.”

Dagmar Klein, Gießener Allgemeine Zeitung, 04. Mai 2013

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