©MatthiasZölle

(t)SchLU(ü)S(.)S!?!.

Ein Satie-Abend mit Salon

„(...) In Goldins neuer Inszenierung für das große Haus lässt er das zehnköpfige Ensemble viel Unsinn veranstalten. Der ist natürlich irgendwie immer bedeutungsschwanger – schließlich wissen wir von Kriegen, Wirtschaftskrisen und dem Ende manches Bohèmiens. Auch der Titel beinhaltet den Schluss, den Schuss, das Tschüss. Aber vielleicht auch „Lust“ und „süß“? Spiel und Ernst sind nicht mehr zu unterscheiden, mit Eifer werden Grenzen überschritten. (...) Unvermittelt schlagen Stimmungen ins Gegenteil um, und das Orchester unter der Leitung von Rainer Mühlbach kann sich richtig austoben. (...) Kathrin Mander zuzuhören ist ein besonderer Genuss, gleich ob sie einen glasklaren Sopran erklingen lässt, kokette Chansons in Szene setzt oder als laszive Jazzsängerin röhrt. (...) Goldin greift die Emotionen in der Musik präzise auf. Zum Teil hat die Aufführung Revue-Charakter. Synchroner Ensemble-Tanz auf einer breiten Treppe spielt eine wichtige Rolle. Doch das vergnügliche Miteinander wird immer wieder gebrochen von surrealistischen Szenen. Ein Kinderwagen mit Gliedmaßen von Schaufensterpuppen wird über die Treppe gekippt. Abgetrennte Beine und Arme werden in den Tanz  mit einbezogen, mal lustig, mal erotisch, und mal gruselig. (...) Es ist lustvoll anzusehen, wie die Mitwirkenden die Stimmung im Paris der 20er Jahre nachzeichnen, Schwitters, Picasso und Cocteau zitieren. (...) Selten war Goldin so bunt und unterhaltsam wie in dieser Aufführung.“

Ursula Pfennig, Westfälischer Anzeiger, 05. Mai 2007


„Skurrile Phantasiefiguren stelzen über die Bühne, ein Tänzer balanciert auf einem umgedrehten Stuhl, der Kronleuchter hängt schief. Alles steht Kopf. Ganz im Sinne des Dadaismus und eines seiner Protagonisten: Erik Satie, exzentrischer Komponist und Pianist. Dadaistisch ist auch der Titel „(t)SchLU(ü)S(ß)S!?!“, mit dem Goldin in seinen Salon bittet, im großen Haus der Städtischen Bühnen Münster durch eine glitzernde überdimensionale Treppe angedeutet. Hier pulsiert das Leben, werden neue Ausdrucksformen probiert. Hier herrscht dieses andere, alles in Frage stellende Lebensgefühl. Es ist der Beginn des 20. Jahrhunderts. Alles ist im Umbruch, auch die Kunst. Sie sucht die Auseinandersetzung, will konfrontieren, Grenzen überschreiten. (...) So beginnt das Tanztheater mit einem Stummfilm, gespickt mit skurrilen, aber auch aktuellen Episoden wie dem verzweifelten Versuch des Tanzensembles, in Münster nicht vom Platz gefegt zu werden. Letzteres passiert – trotz aller städtischen Sparpläne – nicht. Und so verlassen die Tänzer den Film und klettern im wahrsten Sinne des Wortes die Showtreppe hinab in die nächste Kunstform, um sich im Salon Saties mal exzentrischer, mal statischer, aber auch melancholisch-entrückter Musik hinzugeben.(...)"

Andrea Kutzendörfer, Die Glocke, 05. Mai 2007


„(...) Oliver Iserlohs neues 15-minütiges „surrealistisches“ Schwarz-Weiß-Video über ein heimatloses Ensemble […] wird anfangs auf einen Vorhang projiziert. (...) Bei Iserloh, montiert mit Man Ray-Fotos, werden Augen zu Uhrwerken, sitzen Augen in Mundhöhlen, werden Tänzer verschluckt und – wird Geld gezählt vor dem Münsteraner Stadttheater. Derweil wird das Goldin-Ensemble nämlich überall davon gejagt. Von Münsteraner Rathaus-Honoratioren, Klerikern, Straßenkehrern, schießenden Matrosen. Alles Illusion? „(t)SchLU(ü)S(?)S!?!“ ist als Titel nicht nur Anleihe bei Dada. Die Montage von „tschüss“ und „Schluss“ reflektiert auch die unsichere Zukunft des Tanztheaters. (...) Über allem liegt Saties Ironie. Dessen oft statisch-repetitive Musik wird bei Goldin – dessen eigener Stil weiterentwickelt wird, aber immer erkennbar bleibt – zu wiegenden Hüften, nachzitternden oder rhythmisch niedergedrückten, auch grotesken Körpern zwischen Melancholie und auftrumpfender Ironie. Erik Saties Werke waren damals produzierte Skandale. Ein solches Unterfangen bleibt heute natürlich eine Illusion – Daniel Goldins Uraufführung bekam vielmehr des öfteren Szenenapplaus.“

Marcus Termeer, TAZ, 04. Mai 2007


„Am Samstag Abend war das große Haus der Städtischen Bühnen Münster verwandelt. Weggefegt die Provinz, hier pulsierte die Metropole. So etwas sieht man sonst nur an den ganz großen Bühnen. Und selbst dann nur, wenn man Glück hat. Groteskes, politisches Theater, das anrührt, entgeistert, amüsiert: „(t)SchLU(ü)S(ß)S!?!.“

Der Titel ist so exzentrisch wie der Komponist Erik Satie selbst, um dessen Leben und dessen Musik es an diesem Abend ging. So kauderwelschig und entschlossen-unentschlossen wie der Dadaismus, der bei dieser Uraufführung zelebriert wurde. So heiter wie der schrille Salon, den Choreograf Daniel Goldin entwarf – mit Showtreppe, Glitzerkugel, Cancan-Röcken und Schlackerbeinen, die unter den Röcken hervorlugten (großes Lob für die bezaubernden Kostüme von Gaby Sogl).

Spätestens, wenn im Eröffnungsfilm, ganz in der Tradition alter Stummfilme gedreht, Münsters Tänzer wie aufgescheuchte Wiesel über den Prinzipalmarkt hüpfen und am Stadttheater ankommend mit einem Trauermarsch empfangen werden, merkt auch der mit der Stadtpolitik nicht so vertraute Zuschauer, dass Goldin die einstigen Sparpläne der Stadt kommentiert. Ein „Tschüss“ und ein „Schluss“ nicht nur im Titel. Doch das Tanztheater ist noch da. Und wie. Goldin kreiert eine Collage aus Musik, Songs, Tanz und Text. Mit typischen, sich stets wiederholenden Bewegungen bildet er die statischen, sich immer wiederholenden Musikformen Saties ab. Ganz in Grau tanzt dann das Ensemble, gefangen im Kreislauf der Musik.

Die ist ebenso collagenhaft wie die Bilder. Satie ist zwar immer zu erkennen, auch wenn sich ab und zu die Ursonate von Kurt Schwitters, ein dadaistisches Kunstwerk aus Urlauten, dazwischenmogelt. Saties weichen, fließenden Melodien, die von der Fernsehwerbung zu Genüge missbraucht wurden, stellt Goldin mal ein schrilles Showtreiben kontrapunktisch entgegen, mal mündet ein einsamer Akkordeonklang mit den sanften Bewegungen der Tänzer synchron in einen süßen Schmerz.

Goldin schafft es auch, Generalmusikdirektor Rainer Mühlbach aus dem Graben auf die Bühne ans Klavier zu holen, ihm ein fesches Strohhütchen aufzusetzen und wie Erik Satie in seiner Chat-Noir-Cabaret-Zeit  am Montmartre in die Tasten greifen zu lassen. Kathrin Mander singt dazu famos und frivol, wie das Kind der gewitzten „Chochotte“ gezeugt wurde. Bravo-Rufe und Standing-Ovations für das ganze Team – und Sonderapplaus für den gewitzten Kinderchor vom Gymnasium Paulinum und seine vorzüglichen Dada-Künste.”

Sabine Müller, Münstersche Zeitung, 30. April 2007


„Das ABC kann jeder. Das ZYX ist viel schwieriger. Und wenn es Kinder sind, die das Alphabet rückwärts aufsagen, noch dazu im Chor und rhythmisch von einem echten Dirigenten angeführt, dann freut sich das Publikum. Wer will da schon nach dem Sinn fragen. Das Leben ist grau, die Kunst ist bunt. Manchmal sogar ein bisschen grell und mitunter angenehm sinnfrei. So wie phasenweise im neuen Werk des Choreografen Daniel Goldin, das dem Komponisten Erik Satie gewidmet ist. Schon der Titel spricht Bände: (t)SchLU(ü)S(?)S!?!. (...) Hier, wo das graue Leben in die bunte Kunst übergeht, finden sie [die Tänzer] ihre Heimstatt und tanzen munter zu Satie-Musiken (...). Auf der neonbunten Bühne gibt es alsbald ulkige Lieder und Tänze sowie mancherlei Textbrocken von Kurt Schwitters und anderen, die das Theater und seine Freiheiten thematisieren. (...) Und so poetisch die ganze Sache auch anmutet, so ernst wird sie immer dann, wenn Bildzitate aus Bunuel- oder Eisenstein-Filmen an große Schrecknisse gemahnen oder Totentänzer mitmischen. Hingebungsvoll agieren die Tänzer (...), emphatisch sind Kathrin Mander (...).”

Harald Suerland, Westfälische Nachrichten, 30. April 2007


„Was für ein unwirscher Empfang! Auf dem eisernen Vorhang leuchtet in geschwungener, grüner Neonschrift „Sortie” mit einem Pfeil, der auf den Ausgang aus dem Zuschauerraum weist. Leider klang auch schon die Einladung zum neuen Tanzabend verdächtig nach Abschiedsparty: (t)SchLU(ü)S(ß)S!?!. Glücklicherweise erweist sich dieses Konglomerat in Druckschrift-Vielfalt-Marotten-Manier „nur” als nicht ganz persönlich gemeinte, beißend spöttische dadaistische Chiffre. Mit dem Titel seines neuen Stücks spielt Daniel Goldin auf den Nonsens der Dadaisten an, der bekanntlich vor knapp 100 Jahren auch eine Art Protest und Antwort auf die Verhinderung neuer Kunst war.  Bei Goldins »Satie-Abend« mit Live-Musik ist die Begeisterung gleich groß für die musikalische wie die tänzerische Performance. So freudig-engagiert wie hier als Dirigent von Münsters Symphonieorchester und als Pianist (mit verwegenem Strohhut) auf der Bühne hat man Noch-Generalmusikdirektor Rainer Mühlbach kaum je erlebt. Jazzsängerin Kathrin Mander und Akkordeonspielerin Mechthild Kehr stehen ihm in nichts nach – ob beim Chansons du chat, bei La belle excentrique mit köstlicher Can-Can-Persiflage oder bei einem „unappetitlichen Choral” aus dem Zyklus Sports et divertissement. Hinreißend singen und mimen zwölf Kinder eines örtlichen Gymnasiums, ebenso prachtvoll aufwendig verkleidet von Gaby Sogl wie alle übrigen Akteure. Die revueartige Collage ist ein Spagat zwischen Hommage auf den exzentrischen Komponisten Erik Satie und grandios-geistvollem Totentanz auf das drohende Aus der Sparte Tanz an deutschen Theatern. Am Beginn steht ein Remake des Dada-Stummfilms Relâche . In der Version von Videokünstler Oliver Iserloh agiert Goldins Truppe teils im heutigen Münster, teils zwischen Ruinen nach der Zerstörung Ende des Zweiten Weltkriegs. Bühnenbildner Matthias Dietrich zitiert das Ballett Parade (1917): Vorn der schmuddelige rote Samtvorhang eines verkommenen Varietés, dahinter eine Holztribüne anstelle der einstigen Showtreppe. Später hebt und senkt, öffnet und schließt sich hinten eine schäbige Plane für die Auftritte der Artisten, die inzwischen nur mehr in Unterwäsche erscheinen oder sich mit schlecht sitzenden Klamotten und einem verschlissenen Lampenschirm notdürftig herausputzen. Lose und schief baumelt ein Regenschirm als Trapezstange zwischen zwei Seilen. An der Rampe – wo eingangs drei brotlose Straßenkünstler mit Worten wie »Münster – Münzen – (Bischofs-)Mütze« spielten, treffen sich Impresario und Theaterdirektor: „Das Publikum ist da!” - „Soll’s hereinkommen!” Eine einzige Dame sitzt dann vor der Tribüne und applaudiert. Zum Finale versammelt sich das ganze Personal zu einem bunt-bizarren Potpourri schönsten deutschen Tanztheaters voller Zitate nicht nur aus Goldins Choreographien. Seit dessen Felix Nussbaum-Stück „In Öl und Nebel” und den Träumereien der Pariser Bohemiens in „Hinter der Nacht” hat Münsters Tanztheater nicht so vor Phantasie und Esprit gesprüht.“

Marieluise Jeitschko, Tanzjournal, 3.2007

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