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Lachrimae mundi

 

 

„Die Lateinlehrer der westfälischen Metropole Münster werden sich freuen. Denn der argentinische Choreograph Daniel Goldin hat sein neues Tanzstück für das von ihm geleitete Ensemble der Münsteraner Städtischen Bühnen nicht „Die Tränen der Welt” genannt, sondern „Lachrimae Mundi” - was auf dasselbe herauskommt, aber auf humanistische Bildung schließen lässt. Angeblich hat sich Goldin dabei an einer 1605 entstandenen Komposition des Engländers John Dowland, „Lachrimae, or seven Teares”, orientiert, die – so weiß das Programmheft – in ganz Europa so große Popularität gewonnen habe, »dass die Redewendung „Dancing Lachrimae” als Synonym für Traurigkeit und Unglück in die Umgangssprache seiner Zeitgenossen einging«. Mit der Traurigkeit pflegen die zehn Tänzer in Goldins neuem Stück intensiven Umgang. Doch dass daraus ein Unglück entstünde, lässt sich wirklich nicht sagen. Ziemlich genau eine Stunde lang schwelgen sie im Kleinen Haus der Münsteraner Bühnen in den elegischsten Gefühlen. Reinhard Hubert, für die Lichtgestaltung zuständig, lässt die Bühne weitgehend im Halbdunkel. Wehmütig tönt die Musik: Dowland und Bach, keltische und spanische Musik der Shakespeare-Zeit, durchschossen mit den melancholischen Klängen des Berliner Saxophon-Quartetts – und durchweg überlagert von leisen Geräuschen, die eine brüchige Verbindung zwischen Kunst und Realität herstellen. Die Bewegung, der Individuen wie der Gruppe, ist abendfüllend sacht und verhalten: keine tänzerischen Explosionen oder Exaltationen, keine großen Verschiebungen im Raum. Über weite Strecken hin wirken die Körper wie eingesponnen in einen Kokon der Einsamkeit, und nur die Hände sind, häufig in Hüfthöhe, in gemessener Bewegung. Wo die Gesten der Tanzenden weiter ausholen, ist es grundsätzlich die rechte Hand, die beschwörend in die Luft greift und den Körper nach sich in eine langsame Kreiselbewegung zieht. Zuweilen scheinen die Hände Klagelieder in die Luft zu zeichnen, alles Leid der Welt in eine labile Schönschrift, nicht unähnlich fernöstlicher Kalligraphie, einzubinden. Gaby Sogl hat für die fünf Frauen und fünf Männer, die kaum je als Paare, sondern nur als Individuen und als Gruppe auftreten, Kostüme in einem einheitlichen Bordeaux-Rot, doch von unterschiedlichem Schnitt entworfen: schwingende, im Rücken tief dekolletierte Kleider für die Frauen, weite Hosen und Blousons, deren sie sich auch schon mal entledigen, für die Männer. Im Mittelteil verwandeln sich die Frauen, mit Reifröcken, wie Segel gespannten langen Schleppen, zeitweise in weiß gekleidete Fabelwesen; im Extremfall stecken ihre Körper wie Raupen vor der Verpuppung in einer dehnbaren zweiten Haut. Allzu großer Monotonie entgeht Goldin, indem er sein Ensemble systematisch verkleinert und vergrößert und seine Tänzer zu immer neuen Formationen und Gruppierungen zusammenfügt. Wir sehen sanfte, träumerische Soli und manches synchrone Trio, einmal auch ein ungewöhnliches Duo, bei dem ein Tänzer mit einer Querflöte eine Tänzerin, auch musikalisch, begleitet. Nur zu Beginn und dann wieder im Finale tanzen alle miteinander. Und wenn man schon glaubt, das Stück gehe so traurig zu Ende, wie es begonnen und sich fortgesetzt hat, schlägt plötzlich die Stimmung um. Zum erstenmal an diesem Abend setzt eine fröhliche Musik ein, die alle Wehmut von den Tanzenden abfallen lässt; im Finale sind es, wenn auch vielleicht etwas unvermittelt, Tränen der Freude, die Goldin weint. Doch im Tanz, wie in der Musik, müssen solche Stimmungsschwünge nicht psychologisch begründet werden. Es reicht, sie glaubhaft herzustellen – und dazu reicht im speziellen Fall schon der musikalische Anstoß.“

Jochen Schmidt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08. Dezember 2000


„Daniel Goldin lässt seine Tänzer das tun, was sie wirklich können: tanzen. Mit „Lachrimae Mundi” bringt das Ensemble der Städtischen Bühnen Münster eine Uraufführung auf die Bühne des Kleinen Hauses, die durch die Ausdruckskraft des geschulten, menschlichen Körpers wirkt. Befreit von den folkloristischen Beigaben und Anspielungen auf die Weltgeschichte (...) gelingen den zehn Tänzerinnen und Tänzern ausdrucksstarke Variationen zum Thema „Tränen der Welt”. Die Choreographie „Lachrimae mundi” entstand in Anlehnung an den 1605 veröffentlichten „Zyklus Lachrimae” des englischen Komponisten John Dowland, ein Werk aus sieben Instrumental-Pavanen. Goldin kombiniert Dowlands Musik unter anderem mit Liedern von Johann Sebastian Bach und spanischer Barockmusik. Dagegen setzt er Einspielungen des Berliner Saxophon Quartetts und Klangcollagen, verfremdet die alte Musik zum Teil durch Überlagerungen mit Rhythmen und Geräuschen (Musikrealisation: Tomas Wacker). Auch die Bewegungssprache der Tänzer arbeitet mit Kontrasten, um die vielfältigen Stimmungen und Gefühle darzustellen, die die Menschen im Laufe der Jahrhundert Tränen vergießen ließen: vom melancholischen Zeitgeist bis zur individuellen Verzweiflung, vom tiefen Kummer bis zur überschwänglichen Freude. So vermittelt das Ensemble – alle in roten Kostümen auf einer leeren, schwarzen Bühne – im Gleichklang fließender Schrittfolgen zur barocken Orgelmusik ein Bild harmonischer Ästhetik. Die Grundstimmung ist traurig, doch die Traurigkeit hat auch etwas Festliches und Verbindendes. Gleich darauf reißt das Bild auseinander: Zu Free-Jazz-Klängen kehrt sich jeder Tänzer seiner eigenen, individuellen Verzweiflung zu, zuckt, krampft, windet sich. Einer gießt Wasser über sich, ein anderer wirft Heu und Laub auf den Kopf einer Tänzerin. Mit diesen beiden Polen – harmonischer Ensembletanz auf der einen und Performance-ähnliche Darstellungsformen auf der anderen Seite – ist die Bandbreite abgesteckt. Alle folgenden Passagen bewegen sich dazwischen. Obwohl das Ensemble über ungewohnt weite Passagen synchron tanzt, lässt die Choreographie dem einzelnen Tänzer Raum, persönliche Stärken und einen individuellen Ausdruck einzubringen. (...) Für Liebhaber alter Musik mag es eine Zumutung sein, wenn die Liedstimmen manchmal durch Klappern und Heulen überlagert werden. Goldin betrachtet die Musik als Material. Nur wenigen Stücken – wie einem freudigen, keltischen Tanz – gönnt Goldin die unverfälschte Wirkung. Doch durch Verfremdungen und Kontraste legt er Spannungen offen, die von einem zerrissenen Weltbild zeugen – und damit zeitgenössischen Tanz gerecht werden.“

Ursula Pfennig, Westfälischer Anzeiger, 27. November 2000


„Der Blick zerfließt, die Augen schwimmen, eine Träne zittert am Wimpernrand, löst sich und perlt die Wange hinab. Schnitt. Auch wenn man sie tausendmal gesehen hat, verfehlt diese erste Träne nie ihre Wirkung; schmerzlich schön und lustvoll, sorgt sie für gesteigertes Empfinden und Mitgefühl – nicht zuletzt mit sich selbst. So erhebt sie und fördert den Selbstgenuss: „To see, to hear, to touch, to kiss, to die / With thee again in sweetest sympathy”. Die Tränen der Liebenden als Ikone der Trauer an der Welt – dass für die Trauer in der Welt andere Tränen fließen, wusste der Komponist John Dowland in seinem Anfang des 17. Jahrhunderts entstandenen Pavane-Zyklus „Lachrimae, or Seven Teares”. „Lachrimae Mundi”, nennt Daniel Goldin (...) sein neues Werk, er bezieht sich musikalisch neben Bach und spanischer wie keltischer Musik aus Barock und Shakespeare-Zeit ausdrücklich auf John Dowland. Goldin ruft das Leid der Welt im Dröhnen der Bombenflugzeuge an und versinnbildlicht die Wehmut des Liebenden mit einer Rose in der kraftlosen Hand. Er zeigt die Trauer als Gefängnis, das einen versteinern lässt, und beschließt das gut einstündige Stück mit den Tränen der Freude und des Glücks. Entscheidend ist, dass sich Daniel Goldin in „Lachrimae Mundi” auf seine Wurzeln besinnt, auf die klaren expressiven Formen, die ihm die nach Argentinien emigrierte Ausdruckstänzerin Renate Schottelius in seiner Heimatstadt Buenos Aires einst vermittelt hat. Und zugleich scheint er mit dieser Arbeit eine neue Richtung eingeschlagen zu haben, die wegführt von den Ausflügen ins Tanztheater, hin zu einer abstrakten plastischen Bewegungssprache im schwarz ausgeschlagenen Raum (Licht: Reinhard Hubert).
Zu Beginn stehen einem die zehn Tänzer der Kompanie auf der kleinen Bühne des Kleinen Hauses der Städtischen Bühnen gegenüber, sie treten – unter langen violetten Röcken und Hosen (Kostüme: Gaby Sogl) kaum sichtbar – von einem Bein auf das andere, bis einer aus dem Gleichschritt ausbricht, ein zweiter folgt, ein dritter, bis die gesamte Gruppe in markante Bewegungen fällt: Die Unterarme, angewinkelt vor das Gesicht gehalten, vibrieren in einem großen Zittern, die Hände in einem kleinen, sie schlagen weit nach außen auf, fassen sich dann wieder und weben erneut an dem sich auf Hände und Arme konzentrierenden Tanz. Allmählich werden die Schritte größer, greifen in den Raum, Becken schwingen. Torsionen. Öffnen und Schließen. Hoch und tief. Goldins ideenreiche Bewegungssprache hat vor allem in den Gruppenszenen eine neue Qualität erreicht: Formationen der Tänzer wie einzelne Posen scheinen von der Bildhauerkunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst, sie sind hart konturiert, scharf geschnitten und gänzlich unsentimental (bis auf das Solo der Schönen im weißen Reifrock, die in allzu exquisitem Kunstgewerbe zu Boden geht). Hier gelingt dem Choreographen eine Ikonizität, die aus dem Bildspeicher der Trauer und Verstörung schöpft und diese Bilder über den bewegten Körper ins Zeitlos-Allgemeingültige transportiert. Da hält man den Atem an. (...) Zu sehen war bei dieser Premiere vor Totensonntag, dass das kleine Tanztheater im fernen Westen nicht nur eine homogene und reife Kompanie ist – einige der zehn Tänzer sind schon den Anfängen Daniel Goldins als freier Choreograph vor fast einem Jahrzehnt dabei –, sondern anscheinend auch auf dem Weg, sich von innen heraus zu erneuern. Mit dem doppelten Blick zurück und nach vorn."

Katja Schneider, Süddeutsche Zeitung, 29. November 2000


„Daniel Goldins neues Tanzstück „Lachrimae Mundi” (Tränen der Welt) (...) ist ein meisterliches, hoch ästhetisches Gesamtkunstwerk. Für diese verwirrende Orthographie des lateinischen Titels zeichnet sich der englische Renaissance-Musiker John Dowland (1563-1626) verantwortlich, der den argentinischen Choreographen anregte. Denn der komponierende Lautenist, der sprunghaft und melancholisch durch England, Dänemark, Deutschland und Frankreich wanderte und sich angeblich künstlerische Freiheiten erlaubte, wo er konnte, nannte seine 1604 vorgestellte Tanzmusiksammlung »Lachrymae«. Als „Lachrimae” wurde sie in ganz Europa so populär wie heute etwa Henryk Goreckis „Sinfonie der Klagelieder”. Sie besteht aus 21 höfischen Tänzen, Liedern und vor allem „sieben leidenschaftlichen Pavanen” - letztere allesamt aufgebaut auf demselben Motiv aus vier absteigenden Noten, wodurch auch dank reizvoller Harmonien und der Instrumentierung für Laute und Streichquartett eine leise Melancholie vorherrscht, selbst wenn es sich um Tränen der Liebenden handelt. Wie in der einzigen Pavane, die – neben zwei Dowland-Liedern und einer fröhlichen Gagliarde zum Schluss – in Goldins Choreographie übrig blieb als Begleitung eines Pas de deux (...). Zu den schönsten Szenen gehören die (stark vom Ausdruckstanztanz beeinflussten) Ensembles am Anfang und Schluss, größtenteils zu verfremdeten Zitaten aus dem ersten Chor („Herr, unser Herrscher”) und letzten Choral („Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine”) von Bachs Johannes-Passion und einer Fuge aus dem ”Musikalischen Opfer”, durchwoben mit Naturlauten, Folklore-Klängen und Erdbebengrollen. Meisterlich unterstützen die Lichtgestaltung von Reinhard Hubert und Gaby Sogls Kostüme dieses betörend elegante Fest für Auge und Ohr voll Nachdenklichkeit und Wärme, Trauer und Zuversicht, Melancholie und Heiterkeit. Ein Meisterwerk des stillen Poeten und Pilgers auf der Suche nach Geborgenheit Daniel Goldin, ein Glanzlicht moderner Tanzkunst, meisterlich präsentiert von Münsters wunderbaren Tänzerinnen und Tänzern. 70 Minuten Theater, die die Seele berühren können.“

Marieluise Jeitschko, Westfälische Nachrichten, 27. November 2000


„(...)Es gibt eigentlich kein Bühnenbild. Das ist ungewöhnlich für Daniel Goldin. Die schwarze Bühne soll den Blick konzentrieren auf die Akteure, den Tanz. Unterstützt von wechselndem Licht. Eine Art Rückbesinnung auf „die Pioniere des Ausdruckstanzes” schwebt dem Choreographen vor, die Frage „Was kann heute noch reiner Tanz”? Der Grundton bleibt die Melancholie. Die Szenen, auch das ist goldinesk, erinnern an Träume. Zugleich ist „Lachrimae Mundi” ein deutlich „existenzielles Stück”. Was allerdings kein Wunder ist. Die Tränen der Welt. Angelehnt an John Dowlands 1605 veröffentlichten Zyklus von sieben Pavanen „Lachrimae, or seven tears”. Die Musik des Elisabethaners scheint wie gemacht für Goldin: Tränen nicht nur als Ausdruck von Trauer und Unglück, Tränen auch als solche der Freude, des Glücks, der Liebe, der Wahrheit (…) Zusätzlich hört man u.a. Musik des spanischen Barock und ein Stück Bachscher Kunst der Fuge – in der Version des Berliner Saxophon Quartetts. Thema und Variation. Das Spiel mit der Fuge. Bezugsthemen, die sich wiederholen. Thema und Variation nicht nur in den Bewegungen, auch in der Kleidung der TänzerInnen. Zugleich die Frage – aufgrund der Individualität der Tanzenden –, was ist Thema und was Variation? Goldin und seinem Ensemble gelingen tatsächlich schlicht großartige Szenen. (...) Am Schluss gab es minutenlang begeisterten Beifall. Einverstanden.”

Marcus Termeer, taz Münster nrw 30. November 2000


„(...) Goldin und seine Tänzer verwandeln den historischen Begriff dancing lachrimae in theatralische Realität. Sie schwelgen förmlich in Traurigkeit. Über eine Stunde lang lassen sie, zu wehmütiger Musik von Johan Dowland und Sebastian Bach, zu spanischer Barockmusik, keltischen Kompositionen der Shakespeare-Zeit und den dunklen Klängen des Berliner Saxophon-Quartetts, der Melancholie gemessen tänzerischen Lauf. Erst im Finale fällt Goldin wieder ein, dass auch die Freude Tränen fließen lassen kann. Ein plötzlicher Stimmungsschwung erfolgt; die Erde und das Leben haben Goldins Tänzer wieder. Doch abgesehen von diesem finalen Freudentanz ist die Stimmung durchgehend trüb, die Bewegung langsam und elegisch. Es gibt kaum größere Verschiebungen im Raum, nur selten einmal weiträumiges Tanzen, schnelles Durchqueren der Tanzfläche. (...) Die Gefahren der Monotonie vermeidet Goldin, indem er aus seinem kleinen Ensemble immer neue Gruppen formt und Solisten heraushebt. Dabei wird Paarbindung im klassischen Sinne vermieden.

Schon »Andere Leute« (...) war ein Stück gegen die tänzerischen Moden und aktuellen Trends. Mit „Lachrimae Mundi” ist es nicht anders. In der Flut der zappeligen Fast-Food-Stücke und tänzerischen Exhibitionismen setzt es einen Pfeiler der Besinnlichkeit. „Lachrimae Mundi” ist vielleicht kein großes Stück, aber ein auf konservative Weise sympathisches: im lauten Geschrei, mit dem die meisten tänzerischen Novitäten auf sich aufmerksam zu machen versuchen, eine Oase der Ruhe und der Stille."

Jochen Schmidt, Ballett International/Tanz Aktuell, Heft 1, Januar 2001


„(...)Choreographie und Tänzer sind meisterhaft, es ist ein ästhetischer Hochgenuss, mitgetragen zu werden und sich berühren zu lassen von Musik und einfühlsamem, dynamischem tänzerischen Ausdruck. (...) Goldin gelingt es, die Variationen von Tränen in Tanz und Musik zu fassen und in einen unmittelbaren, berührenden Ausdruck zu transportieren. Heitere Gelassenheit, Freude, Kraft und Dynamik sind zusammen mit Trauer, Verzweiflung und Schwermut in einen einzigen großen Tanz integriert. Ein Tanz der die Zuschauer gefangen nimmt und bis zum Schluss der Aufführung nicht loslässt. Es ist eine Choreographie, die von Menschlichkeit geprägt ist und die Auge und Ohr gleichermaßen fesselt.“

Petra Faryn, die Glocke, 14. Januar 2001


„Heitere Lautenklänge umschmeicheln die rotgekleideten Tänzer, eine ausgelassene Feststimmung liegt über der ersten, harmonisch-beschwingten Szene von Daniel Goldins neuem Tanzabend „Lachrimae Mundi”, die Tränen der Welt. Aber bald schon verdüstert sich die Szenerie in Münsters Kleinem Haus. Ein Pärchen driftet aus der Gruppe ab, die feierliche Geschlossenheit bricht auf. Das Licht wird bläulich fahl, schrille Saxofonklänge zerschneiden den kahlen Raum. Die wie ein Zyklus angelegte Reise durch die Nacht beginnt – nach 70 Minuten tauchen die Tänzer schließlich wie befreit aus dem Tal der Tränen wieder auf. Vielleicht kann man Daniel Goldins neue, mitunter hermetisch verschlossene Choreographie ja verstehen als ein Drama der Blicke. Augen sind wie Spiegel, in denen sich die ganze Welt wieder findet. Und so glänzt im tränenverhangenen, wässrigen Auge die Trauer über unsere Vergänglichkeit. Diese Melancholie der Blicke ist der treibende Impuls, der Goldins Tänzer in immer neuen Konstellationen zusammenführt. Das Rot des Anfangs ist längst abgeblättert. Wie eine Statue wirkt die Frau im fahlen Ballkleid, schneeweiße Federn regnen herab und künden von dem Schrecken des Winters und der Finsternis. Dazu erklingt ein trauriges, elisabethanisches Lied. Der Sänger weiß von »kristallenen Tränen«, und über die Bühne legt sich ein Eiseshauch. Eine Tänzerin ist gefesselt in einem Schleier; ein anderes Ensemblemitglied kauert als Mumie verpackt im Hintergrund. Nur ganz allmählich finden sie Blicke füreinander, ein junger Galan liegt mit einer Rose in der Hand am Boden. Jetzt könnte man sich vielleicht wieder finden und frei tanzen aus eisgrauer Erstarrung. Endlich geht ein Musikant umher, umgarnt mit der Querflöte seine erwachte Freundin, küsst sie mit Tönen und Blicken. Ein zweites Pärchen kommt auf Touren, der Mann schleudert seine Partnerin so wild und ausgelassen umher, als wollte er sie wachrütteln. Die Bruchstücke fügen sich zu einem allmählichen Aufschwung, auch wenn immer wieder donnernde Kriegsgeräusche unheilvolle Kontrapunkte setzen. Die tränenreiche Winterreise mündet im leuchtend roten Festtanz. Jetzt glänzen die Augen der zehn Tänzer, ein befreiendes Lächeln schwebt im Raum. Langer Applaus für Ensemble und Choreographie."

Hans von der Gathen, Münstersche Zeitung, 27. November 2000


„Die Tränen der Welt: auf der schwarz ausgeschlagenen Bühne in Münster werden sie verkörpert von fünf Frauen und fünf Männern. Sie tragen bordeauxrote Kleider, Hosen und Hemden. Sie können zu Freudentränen werden und tanzen dann für Momente ausgelassen. Aber das ist die Ausnahme. Vorherrschend ist die Lust des Melancholikers am Leiden, das ist das Leben. Beim Argentinier Daniel Goldin wird diese Lust zum Tanz. Anfangs schreiten seine Tänzer langsam nach vorn, die Männer vor den Frauen; nur die Unterarme brechen seitlich aus. Langsam variiert sich ihr wiederholungsreiches Spiel. Zehn Tänzer und doch nur einziger tänzerischer Körper, sich wiegend und kreiselnd als bewege sie ein sanfter Wind. Das ist der Anfang, und auch am Ende dominiert die Einheit der zehn. Dazwischen lösen sich aus dem Corpus einzelne Bewegungsbilder, Soli und Duos von stiller Verlorenheit. Eine Frau in weißem Reifrock etwa, sie sinkt im Niederschweben weißer Federn, führt ihre Hände zum Herz. Ein Mann zerreißt seltsam sanft sein Hemd. Eine Frau krümmt sich, dreht sich mit ausgebreiteten Armen; ein Mann umkreist sie und spielt auf der Flöte. Ein Anderer lässt rote Blütenblätter aus dem Schwung seiner Hände regnen. Bis er seine Partnerin endlich berührt, sie hält und führt, vergeht viel Zeit, weil die Melancholie kein ziel kennt. Es ist das resignative Zeitgefühl des Melancholikers, das auch „Lachrimae Mundi” bestimmt. Im Gegensatz zu vielen anderen Kompanien reagiert Goldin auf die Zudringlichkeiten der Gegenwart nicht mit Kakophonie und zappelnden Körpern, sondern setzt sich die zeitlose Maske des Melancholikers auf. Auf den zeitgenössischen Lärm regiert er mit Stille, auf die Raserei mit Langsamkeit und gegen den Blödsinn setzt er die Traurigkeit. Das macht „Lachrimae Mundi” zu einer insgesamt elegant und stimmig choreographierten Übung in Sachen Eskapismus. Man kann sich treiben lassen, aber herausgefordert wird man nicht. Dafür ist der Tanz der Musik zu nah und das choreographische Temperament Goldins in seinem neuen Stück zu nah am Wasser gebaut.“

Basil Nikitakis, WDR 5, Redaktion Scala – Das Kulturmagazin, 22. Januar 2001

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