ARBEIT MIT EMOTIONEN
ballett international/tanz aktuell, Januar 1996

Daniel Goldin, Grenzgänger zwischen den Kulturen, übernimmt ab der Spielzeit 1996/97 das Tanztheater der Stadt Münster.

Katja Schneider portraitiert den argentinischen Tänzer und Choreographen


Daniel Goldins neueste Produktion „Papirene Kinder”, die im September das NRW Meeting Neuer Tanz eröffnete, kreist um die Vergangenheit die Mechanismen der Erinnerung und die Gefühle. Die stark emotionale, persönliche Auseinandersetzung mit kollektiver und individueller Geschichte prägte schon Goldins frühe Werke.

Für eine seiner ersten Choreographien, das Duett „La Peregrinación”(Die Wallfahrt), erhielt der 1958 in Buenos Aires geborene Tänzer und Choreograph 1986 den ersten Preis beim Wettbewerb „Las Artes y las Ciencias de Argentina”. Mit seinem zweiten Duett, „La Sombra y la Luna” (Der Schatten und der Mond; 1992), für das Folkwang Tanzstudio, gewann er den ersten Preis beim internationalen Choreographiewettbewerb „Città di Cagliari”; als freier Choreograph schuf er 1993 „A la Deriva” (Treibgut; 1993) und „Alborada” (Tagesanbruch; 1994). Thematisch und musikalisch hat Goldin diese vier Stücke zu „Cuentos del Camino” (Wegerzählungen) zusammengefasst. Sie beschwören zu traditioneller Musik aus Galicien eine archaische, karge, bäuerliche Welt herauf und spielen, sagt Daniel Goldin, in einem Raum der Erinnerung.

Auch „Finisterre”, sein 1994 entstandenes Stück über die Jakobuswege, beschäftigt sich mit der Vergangenheit, mit den Legenden und mit der Muttersprache durch die sie vermittelt werden. Das, was war und wie es weitergegeben wird, interessiert den Choreographer „Ich glaube, dass es eine kollektive Erinnerung gibt. Wie sie funktioniert, das möchte ich herausfinden.” Daniel Goldin will das kollektive Gedächtnis stimulieren, vergangene Zeiten wiederbeleben, die alten Traditionen und Geschichten, „die Welt der Tagebücher, der Zeitzeugenerzählungen, der autobiographischen Roman der Bord- und Reisebücher, der fantastischen Literatur und der jiddischen Erzählungen» aufnehmen, um die „Gerüche, die vertrauten Gefühle, die Kindheitsbilde in neue Bilder zu verwandeln”.

Daniel Goldin, in zweiter Generation einer Familie jüdischer Auswanderer aus der Ukraine und Bessarabien en in Buenos Aires aufgewachsen, war ein lebendiges Kind unter den vielen „papirenen Kindern”. Gemeint sind mit dem jiddischen Ausdruck Angehörige, Freunde, die zurückblieben, nicht emigrierten, vielleicht schon nicht mehr am Leben sind, von denen es nur schriftliche Zeugnisse gibt oder mit denen man nur schriftlich kommunizieren kann, die aber gleichwohl ihren feste Platz im Leben der Ausgewanderten behalten haben.

„Papirene Kinder” ist ein sehr atmosphärisches Stück das Goldins künstlerische Intention genau zeigt. Es geht darin um die Weitergabe von Alltagskultur, von Bräuchen, um die unbewusste Prägung durch die Tradition in der man aufwächst. Er trage etwas vom Jüdischen seiner Ahnen, obwohl er nicht religiös erzogen worden sei, und wolle dem nachgehen, was in der Sozialisation und in den Emotionen immer mitschwinge - wie das, von seiner Großmutter gehörte jiddische Lied „Papirene Kinder”, das im Stück von einer Marionette „gesungen” wird und dem Werk den Namen gab. Daniel Goldin verfolgt Stationen im Alltag der Überlebende bewegt von der Frage, wie man als Verfolgter, als Jude nach dem „Dritten Reich” weiterleben kann. Inspiriert wurde er dazu von der Münchner Ausstellung über die Displaced-Person-Lager mit dem Titel „Ein Leben aufs neu”.

Der erste Teil von „Papirene Kinder” besteht aus de heiklen Versuch, mit seinem ausgefeilten tänzerische Bewegungsvokabular „politische Bilder” erstehen zu lassen. Bilder von Gefangenschaft, Unterdrückung, Folter und Tod, aber auch von Widerstand und Überleben. Zu traditioneller ukrainischer Musik - später erklingen Kompositionen von Orff und Mendelssohn - betreten nacheinander die Tänzer in grau-blauer Arbeits- (oder Anstalts-) Kleidung die Bühne. Nacheinander fallen sie in eine charakterisierende Bewegung, die leitmotivartig immer wieder aufgegriffen wird. Sie erscheint wie das Schleppen schwerer Lasten, das Halten einer Fahne, das unaufhörliche Vorwärtsdrängen eines Paares, ohne sich von der Stelle zu rühren. Düster, grau, beklemmend ist die Atmosphäre des ersten Teils, ohne Zierat die dichte Choreographie. Nichts ist plakativ, und trotzdem sieht man im Langsam-zu-Boden-Gleiten den Erschöpfungs­tod ausgemergelter Gefangener, im Rutschen auf Knien mit verdrehten Schultern und anschließendem Zusam­mensinken den Tod im Stacheldraht, man sieht im ruck­artigen Aufbäumen des Oberkörpers die geschundenen Zwangsarbeiter. Später finden die Tänzer sich zu einer Gruppe zusammen, stellen sich wie für den Fotografen leicht schwankend auf. Allmählich verfallen sie in ein zeitlupenhaft verzögertes Laufen am Platz; ihr Gesichts­ausdruck wechselt zu überschäumender Freude und Lebenslust; ein jiddisches Volkslied erklingt erst leise, wird immer lauter. Dieser gestisch und mimisch ausge­drückte Emotionswechsel leitet über zum zweiten Teil, der nach Kostümwechsel auf offener Bühne mit einem hinreißenden Music-Hall-Tango beginnt. Aus Akteuren werden Zuschauer, wenn in einem Theater auf dem Theater eine Marionette das traurige Lied von den „Papirenen Kindern” begleitet. Die Stimmung hat sich danach verändert. Ruhig verhalten agieren die Tänzer, ein chagallscher Marionetten-Geiger fliegt zu Max Bruchs „Kol Nidrei” durch die Luft, und in einer Traum-Theater-Welt scheint alles möglich: das Ballet blanc, der sterbende-Schwan, die Pantomime, der moderne Tanz. Aus temperamentvollen Charaktervariationen taumeln die Tänzer zurück, formieren sich neben dem Mario­nettentheater, nehmen wieder eine Pose wie für die Kamera ein und erstarren.

Die Bilder mit wechselvollem emotionalem Gehalt erinnern in ihrer Präzision an Aufnahmen in einem Foto­album, das mit jedem Umblättern neue Situationen, Gefühle, Stimmungen zeigt und diese beim Betrachter auslöst. Die Arbeit mit Emotionen hält Goldin für wesentlich, sowohl für die Erstellung einer Choreogra­phie als auch für deren Rezeption. „Die Erinnerung”, sagt er, „produziert ein Gefühl und enthält eine bestimmte Energie”, die sich in der Bewegung manife­stiert, aus ihr heraus entsteht. Sie ist an den Anspruch gebunden, etwas Bestimmtes zu sagen zu haben - für ihn, der Kunst als Kommunikation begreift, ergibt sich daraus mit jedem Stück eine neue Prüfung.

Wesentlich geprägt haben ihn die argentinischen Gastspiele des Tanztheaters Wuppertal, des Folkwang Tanzstudios (FTS) und Susanne Linkes. Als er 1987 nach Deutschland kam, wurde er Mitglied des FTS. Er stu­dierte bei den Folkwang-Pädagogen Hans Züllig und Jean Cébron und tanzte als Gast bei Pina Bausch. „Ich bin bei Folkwang nicht nur örtlich angekommen, son­dern auch künstlerisch. Das war keine vollkommen frem­de Welt für mich; es bestand schon eine innere Ver­bundenheit.”

Die Grundlagen für diese Vertrautheit hatte die deut­sche Pädagogin Renate Schottelius gelegt, die vor den Nationalsozialisten nach Argentinien emigriert war. Sie unterrichtete Goldin - im Anschluss an seine private Schauspiel- und Tanzausbildung - im Sinne Mary Wigmans an der Schule für zeitgenössischen Tanz des Tea­tro Municipal General San Martín in Buenos Aires. Dort studierte er außerdem klassischen Tanz und Graham-Technik sowie Choreographie und Musik. Wesentliche Impulse erhielt er auch von der Energie-Technik Fedora Aberasturys.

Nun schließt sich der Kreis: Daniel Goldin, der Grenz­gänger zwischen den Kulturen, bringt eine multikultu­rell geprägte, aber wesentlich vom „deutschen Tanz” inspirierte Kunst aus Argentinien zurück nach Deutschland. Er übernimmt ab der Spielzeit 1996/97 die Leitung des Tanztheaters der Stadt Münster. Für drei Jahre sind ihm dort drei neue Produktionen mit neun Tänzern gesi­chert; vorher aber choreographiert er noch ein neues Stück für das FTS, das bei den Ruhrfestspielen uraufge­führt werden soll. Er freut sich, dass die Tänzer in Mün­ster „immer da sind”, für die Arbeit mit ihm zur Verfü­gung stehen und nicht - wie in der freien Szene aus finanziellen Gründen üblich - erst mühsam zusammen­getrommelt werden müssen. „Welche Freiheit habe ich denn als freier Choreograph?” fragt er und spricht damit die prekäre Situation der freien Szene in Deutschland an. Den Begriff „frei” sollte man in dieser Hinsicht eigent­lich nur in Anführungszeichen verwenden: Frei wovon und frei wozu? „Frei” im marktwirtschaftlichen Sinne? Oder „frei” als Euphemismus für „jung”, und „jung”, meint, wie es die belgische Tanzkritikerin Myriam van Imschoot formuliert, „working for free and being of­fered only ‘chances’ and ‘opportunities’ ”. Wenn „frei” „jung” heißt, ist „frei” gleichbedeutend mit „unterbe­zahlt”. Wer künstlerisch als Nachwuchs gilt, braucht auch kein erwachsenes Honorar, scheint eine weitver­breitete Überzeugung zu sein. Die künstlerische Frei­heit, die die sogenannte freie Szene sich nimmt, bezahlt sie (im wörtlichen Sinne) nicht selten mit der Selbstaus­beutung ihrer Mitglieder. Das Klima ist rauh in Deutsch­land für die nicht einem städtischen oder staatlichen Haus assoziierten Choreographen, Tänzer und Grup­pen, da es an Probenräumen, Aufführungsorten und Geld mangelt. Trotzdem hätte Daniel Goldin auf jeden Fall weiterhin frei gearbeitet und versucht - wie im Fall der „Papirene Kinder” - über internationale Netzwerke wie das European Network for the Research of Con­temporary Dance Production (durch das er im CNDC in Angers und am Kunstencentrum Vooruit in Gent die Produktion vorbereiten konnte) Unterstützung für sei­ne Projekte zu finden.

„Ich würde dahin gehen, wo ich einen Platz finde, an dem ich weiterhin tanzen und choreographieren kann”, sagt er sehr freundlich und sehr ernst. Dieser Platz ist nun in Deutschland, aber zu Hause sei er hier ebensowenig wie in Argentinien. Er fühle sich auch nicht als Jude, aber erst in Deutschland habe er danach zu fragen begonnen, was „Jude” heißt. Irritiert ist er weni­ger von der Vergangenheit Deutschlands als vielmehr von der Mentalität (und Rechtsprechung) hierzulande, die nicht für wichtig hält, wo man geboren ist, sondern woher die Eltern stammen. „Das war für mich genauso fremd wie die Entdeckung, wie klein Europa ist; man fährt zwei Stunden, und schon wird in einer anderen Sprache gesprochen, gibt es andere Sitten und Verhal­tensweisen.” Die soziologischen und kulturellen Unter­schiede faszinieren Daniel Goldin. Das nächste Stück, der dritte Teil der Tetralogie, das er bereits für Münster plant, soll von der Entstehung von Kulturen handeln, von Südamerika, wo es eine Kultur gab, der gewaltsam eine fremde übergestülpt wurde und nun eine völlig neue, wie er meint, entstanden ist.

Seine alptraumhaften Erfahrungen mit der argenti­nischen Militärdiktatur sind, so sagt er, indirekt in die Stücke eingeflossen. Vielleicht erklärt das ein wenig, warum seine Choreographien oft als sehr schwer und düster angesehen werden. Dieser Einschätzung stimmt er nicht zu, obwohl er einräumt, dass er kein fröhlicher Mensch sei, „das war ich auch als Kind nicht”.

Die Ängste und Obsessionen mäandern in seinem Werk, das trotzdem an vielen Stellen von heiterer Ge­lassenheit getragen ist. „Am Ende bin ich mit mei­nem Charakter in die Thematik von Juden, pilgernden Katholiken oder armen Bauern verwoben. Ich habe mei­nen eigenen Kristall zu sehen, meine eigenen Erfahrun­gen.”

ˆ nach oben